Europa steht vor epochalen Herausforderungen: Schuldenkrise, Brexit, Flüchtlingsproblematik, nationalistische Töne und zunehmende EU-Feindlichkeit. Viele Sprachen, viele Meinungen – was verbindet, ist die Grundidee der Einheit in Vielfalt. Doch wo liegen die Wurzeln von Europa? Wir schauen zurück und wagen im Gespräch mit dem Europa-Experten Prof. Dr. Dr. Michel Friedman einen Blick in die Zukunft.
Von Dr. Jutta Failing
Inhalt
Die Königstochter zeigt keine Furcht. Dabei ist ihr Ritt auf dem Stier nicht freiwillig, die junge Frau wird entführt. Göttervater Zeus hat sich in das potente Tier verwandelt und nimmt sie auf dem Rücken mit übers Meer. Der liebestolle Grieche darf einen triftigen Grund für diesen Gestaltwandel anführen, zu Hause wartet seine misstrauische Gattin Hera. Der Ritt endet auf dem europäischen Kontinent, genauer auf der Insel Kreta, wo sich der Gott als fescher Mann ausgibt.
Das Mädchen, ihr Name ist Europa, wird zur unsterblichen Frau und gebiert Zeus drei Kinder. Europas Vorfahren und ihre Nachkommen stehen fortan für die Verbindung der Völker rund ums Mittelmeer – Griechen, Kreter, Phönizier und Ägypter. Soweit der Mythos.
Goethe, oder wieviel wiegt ein Pfund Kaffee?
Als Goethe im Elternhaus am Großen Hirschgraben zur Welt kam, befand sich Europa inmitten einer Epoche kriegerischer Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft. In Preußen regierte Friedrich II. und die Briten ließen sich ihr Monopol auf den Sklavenhandel nach Amerika nicht nehmen.
Die Staaten Europas waren mit wenigen Ausnahmen absolutistisch regiert. Es herrschte das Zeitalter der „Vernunft“; dem langen Schatten des Mittelalters setzten Aufklärungsphilosophen die Ideale von geistiger Freiheit, Gleichheit und Toleranz entgegen. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen!“, propagierten diese ersten Medienprofis. Die Menschenrechte und dass der Staat sich aktiv für deren Einhaltung einsetzen müsse, wurden heiß diskutiert.
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen!“ – Immanuel Kant
Normgewichte und verbindliche Maßeinheiten mussten her, zu verworren, wenn schon ein Pfund Kaffee in Frankfurt anders wog als ein Pfund in Leipzig. Ganz zu schweigen von den unzähligen deutschen Währungen. Das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ stand als Flickenteppich verzwergter Fürstentümer da, deren Abgrenzungen und Allianzen kaum noch überschaubar waren.
Goethe erkannte das Potential Europas, als er in seinem Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ die Kraft des Erdteils beschwor: „Diese unschätzbare Kultur, seit mehreren tausend Jahren entsprungen, gewachsen, ausgebreitet, gedämpft, gedrückt, nie ganz erdrückt, wieder aufatmend, sich neu belebend und nach wie vor in unendlichen Tätigkeiten hervortretend, gab ihm ganz andere Begriffe, wohin die Menschheit gelangen kann.“
Um des Friedens willen
1814 trafen sich in Wien Könige und Diplomaten, um über eine Neuordnung ihrer Staatenwelt zu beraten. Der Kontinent war nach den Napoleonischen Kriegen in völliger Unordnung. Der „Wiener Kongress“ markierte einen Wendepunkt, denn es gelang den Teilnehmern, eine Friedensordnung zu stiften, die erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs endete.
Aus den Trümmern der alten Welt stieg ein neues Europa der Sicherheit und Solidarität auf. Die Vernunft der Nationen siegte – vorerst. Der Fortgang ist nicht schnell erzählt, nur soviel: Angesichts des Leidens und der materiellen Zerstörung der beiden Weltkriege war das Bedürfnis groß, den Frieden dauerhaft zu sichern. Zunächst ging es um Ressourcen – die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die erste „überstaatliche“ Organisation überhaupt, nahm 1952 ihre Arbeit auf, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) folgte im Jahr 1957.
Deutschland gehörte zu den sechs Gründerstaaten. Konrad Adenauer sprach damals ein nach wie vor gültiges Wort: „Die Staatsmänner und Politiker aller europäischer Staaten müssen Abschied nehmen von Illusionen, sie dürfen nicht rückwärts sehen, sich freuen an der Erinnerung vergangener Macht, sie müssen die Dinge sehen, wie sie jetzt sind, und sie müssen in die Zukunft sehen.“
Der Vertrag von Maastricht leitete 1992 die Gründung der Europäischen Union (EU) ein. Der starke Staatenverbund erhielt Zuständigkeiten in nichtwirtschaftlichen Politikbereichen. Reformverträge und Erweiterungen folgten, 2002 kam die gemeinsame Währung. Aktuell, so Bundeskanzlerin Angela Merkel, stehe die EU vor riesigen Sicherheitsherausforderungen, deshalb müsse es eine bessere Zusammenarbeit in der EU geben. Deutschland, Frankreich und Italien wollen nun die Sicherheit der EU mit mehr Militärkooperation stärken.
Europastadt Frankfurt
Wenn die Europäische Union und Europa in stürmischeren Wassern fahren, spürt man das in der Börsenstadt. „Wird Frankfurt das neue London?“, fragten viele unmittelbar nach dem Brexit. Die Europäische Zentralbank ist schon da.
Doch auch Paris buhlt um ein neues europäisches Finanzzentrum. Großbritannien ist Gastland bei der Konsumgütermesse Ambiente im Frühjahr 2017, man darf auf die Zwischentöne der Aussteller von der Insel gespannt sein. Verpflichtet dem besonderen Gedanken der europäischen Verständigung trägt Frankfurt den Titel „Europastadt“.
Dank seiner multikulturellen Bevölkerung ist Frankfurt ohnehin die europäischste Hauptstadt Deutschlands. Auch mit Blick auf seine vielen Städtepartnerschaften spielt Frankfurt in der Europäischen Champions League. Und schon vor Jahrhunderten prägten heutige EU-Nachbarn die Messestadt und ihre Region an der Kreuzung wichtiger Handelswege, noch heute lassen sich Spuren von Franzosen, Österreicher, Tschechen oder Belgier finden.
Der barocke Bolongaropalast – gebaut von zwei italienischen Brüdern, die dort die größte Tabakhandlung und Schnupftabakmanufaktur Europas unterhielten – ist sicher eines der schönsten architektonischen Zeugnisse.
Vertrauen statt Misstrauen
Kurz vor dem Brexit eröffnete das Zentrum für Angewandte Europa-Studien (CAES) an der University of Applied Sciences Frankfurt, wo sich junge Menschen mit der Zukunft des Kontinents befassen sollen. Interdisziplinäre Forschung, die sich Lösungsvorschläge für europäische Fragen und Herausforderungen vorgenommen hat. Direktor des Zentrums ist Prof. Dr. Dr. Michel Friedman, Anwalt in Frankfurt und TV-Moderator in Berlin.
Wir treffen den streitbaren Denker in seiner Kanzlei, einem hellen Raum mit Büchern und Fotografien. Vor ihm auf dem Konferenztisch liegt etwas, in Plexiglas gegossen, was ihn daran erinnere, wem er sein Leben verdanke. Es ist ein Stück Fußboden aus der Fabrik von Oskar Schindler. Der Fabrikant rettete Friedmans Eltern und die Großmutter.
„Ich habe das Stück Boden zum 60. Geburtstag geschenkt bekommen“, wird er am Ende des Interviews sagen, und an das Credo seiner Mutter erinnern: „Hass belastet den Hassenden mehr als den Gehassten.“ Die Erfahrung mit Schindler habe ihn zu einem optimistischen Menschen gemacht, daher: „Ich empfehle Vertrauen statt Misstrauen.“
Sauerstoffzufuhr für Europa
Wir fragen nach der Begeisterung, die er für Europa empfinde. Vertrauen auch hier? „Die europäische Freiheits- und Friedensidee müsste eigentlich jeden Menschen zu jeder Zeit euphorisch machen. Die Werte, Menschenrechte und Demokratie hinter dem Projekt Europa bleiben für mich unersetzbar. Sie symbolisieren Humanismus und Aufklärung. Es ist die Jugend, die heute die Früchte der europäischen Idee wie keine Generation davor erntet, Reisefreiheit und vieles mehr.
Keine Generation ist so mehrsprachig und multikulturell aufgewachsen wie diese, das sind eine Bereicherung und eine Chance für die Zukunft. Ein Teil dieser Jugend engagiert sich in nichtstaatlichen Organisationen, Bürgerinitiativen oder konkreten Projekten.
„So etwas Großes wie Europa benötigt immer wieder ‚Sauerstoffzufuhr‘, eine Streitkultur im Versprechen auf Demokratie und Freiheit.“ – Prof. Dr. Dr. Michel Friedman
Ein anderer Teil von ihr hat sich entpolitisiert, engagiert sich nicht, ich glaube, aus dem Gefühl heraus, dass alles um sie herum selbstverständlich geworden ist. Doch so etwas Großes wie Europa benötigt immer wieder ‚Sauerstoffzufuhr‘, das heißt, eine Streitkultur im Versprechen auf Demokratie und Freiheit.“ Gleichzeitig appelliert Michel Friedman an den Begriff der Freiheit wie er sie versteht: „Freiheit bedeutet, dass man die Verantwortung für sein Leben an sich selbst gekoppelt hat. Niemand darf diese eigene Verantwortung beeinflussen.“
Friedman freut sich auf den Austausch mit den Studierenden der Hochschule – an der er seit dem Sommersemester 2016 eine Professur für Immobilien- und Medienrecht innehat – und setzt auf deren Potential eines visionären und kritisch hinterfragenden Geistes. „Ein Geschenk für mich und zugleich eine Herausforderung.
Wer mit jungen Menschen zusammenarbeitet, ist gezwungen, über Zukunft nachzudenken. Hier habe ich die große Hoffnung, dass sich die heute 10- bis 25-Jährigen auf den Weg machen. Eben weil sie seit langem die Generation sind, die von europäischen sowie nichteuropäischen Konflikten und Bedrohungen unmittelbar betroffen ist.“
Ein Vertrauen in junge Köpfe für Lösungen in Europa ist nicht neu, doch im Frankfurter Zentrum will man konkreter und ein Stück weit radikaler werden, denn alles darf in Frage gestellt werden: Dekonstruktion, Rekonstruktion und Neukonstruktion, und das aus unterschiedlichen Perspektiven – auf das Europa sich neu erfinde. „In einem geschützten Raum der Wissenschaft können hier Gedanken und Visionen erarbeitet werden, ohne dass diese gleich durch äußere Interessen und Öffentlichkeitsfragen zermalmt werden.
Im nächsten Schritt gehen wir damit nach außen, das ist ein Großteil der Bestimmung des neuen Zentrums. Dessen Kernaufgabe ist die Förderung von interdisziplinären und internationalen Forschungsprojekten, den Aufbau von Think Tanks sowie Veranstaltungen und Publikationen zum Thema Europa.“ Und: „Ohne das Engagement von Wissenschaftsminister Boris Rhein und Hochschulpräsident Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich wäre das Projekt nie verwirklicht worden.“
Keine Angst anzuecken, der Jugend das Wort. All das passt zum Europa-Kenner Michel Friedman, der um die politischen Schlechtwetterwolken weiß, die am europäischen Himmel stehen.
Der Motor Deutschland drückt aufs Gaspedal, während der andere eine Vollbremsung macht. Dabei kann es nur zum Crash kommen.“ – Prof. Dr. Michel Friedman
Einer gibt Gas, der andere bremst
„Sollte im nächsten Jahr Marine Le Pen als Präsidentin Frankreichs gewählt werden, wird das die Stabilität der Europäischen Union massiv beinträchtigen. Denn deren Säulen sind Deutschland und Frankreich“, sagt Friedman und zieht einen Vergleich: „Der Motor Deutschland drückt aufs Gaspedal, während der andere eine Vollbremsung macht. Dabei kann es nur zum Crash kommen.“
Ohnehin sieht er wie viele Experten die Situation düster: „Wir befinden uns in Europa in einer komplexen, schwierigen und gefährlichen Zeit – das gilt auch global. Wir sind Zeugen einer Herausforderung, die historisch nicht neu ist. Geostrategische, militärische Machtansprüche und Ideologien etwa.
Wir erleben immer stärker, wie Meinungsfreiheit mit Füßen getreten wird – für Europa und die EU ein brandgefährliches Moment. Die Menschenrechte – der Traum der europäischen Idee – werden durch nationalistische und xenophobe Parteientwicklungen abgebaut. Sollte die europäische Idee ersetzt werden, kommt viel Unglück über die Menschen – Ausschluss von Modernität wäre nur eine Folge. Kooperation statt Konfrontation, also das Gegenteil von dem, was Europa über Jahrhunderte praktizierte, muss die Zukunft sein.
Die sozialökonomischen Probleme innerhalb Europas sind von großer Brisanz. Die Gerechtigkeitsfrage ist eine der entscheidendsten Herausforderungen Europas.“ Michel Friedman hält es für möglich, dass gerade Krisen wie die aktuelle bei den Jüngeren wieder einen „Energieschub“ auslösen, darauf will er im neuen Zentrum hinarbeiten. Den Einwand, dass ein Einzelner kaum etwas ausrichten könne im europäischen Machtgetriebe, lässt er nicht gelten, allein schon vor seinem eigenen biografischen Hintergrund.
„Schindler hat 1.000 Menschen gerettet, eine Einzelperson!“, sagt er mit Blick auf das kleine Stück Fabrikboden auf dem Tisch. Die Prognose ist eindeutig: „Die Europäische Union hat viel geschafft. Doch Stillstand bedeutet für Europa das Ende. Sonst war diese Idee nur ein Hauch in der Geschichte.“
Europa in Zahlen
12 – Ein Kranz aus zwölf goldenen Fünfzack-Sternen auf blauem Grund – das ist die Europafahne. Die Zahl Zwölf steht traditionell für Vollkommenheit, Vollständigkeit und Einheit. 1955 vom Europarat als dessen Flagge eingeführt und 1986 von der Europäischen Gemeinschaft übernommen, ist sie heute vor allem als Symbol der EU bekannt. Sie hängt auch in der Paulskirche („Wiege der Demokratie“).
27 – 27 Staaten sind Mitglieder der Europäischen Union. Mitglied Nummer 28, die Republik Zypern, zählt geographisch zu Asien. Jüngstes Mitglied ist Kroatien (Beitritt 2013). Deutschland gehörte 1958 zu den Gründerstaaten. Unter den Beitrittskandidaten ist der Nato-Partner Türkei.
700 – Über 700 Millionen Menschen leben in Europa. Nur etwa die Hälfte der europäischen Staaten gehört der EU an.
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