Einst nicht beliebter als eine Zahnspange, avancierte die Brille innerhalb der letzten Jahre zu einem der begehrtesten Lifestyle-Accessoires. Längst ist sie über ihre reine Funktion als Sehhilfe hinausgewachsen. Wie eine Brille der Ausstrahlung dienlich sein kann und welche Modelle 2016 besonders angesagt sind, das haben wir in Interviews mit nationalen und regionalen Optik-Experten herausgefunden.
„Vierauge“, „Brillenschlange“ – noch vor zwanzig Jahren hatte es nicht einfach, wer in der Schulzeit eine Brille tragen musste. Damals galt: Brillenträger sind uncool, seine Träger unter Streberverdacht. Im Zeichentrickfilm fand dieses Stereotyp reichlich Bestätigung, war etwa das einzige Merkmal, das Schlaubi Schlumpf zum Besserwisser stempelte, seine Brille.
Dass eine Verbindung von Brillenträgern und Intellektualität gezogen wird, kann nicht überraschen – zum einen, weil sich ursprünglich nur wirtschaftlich Bessergestellte eine Brille leisten konnten, zum anderen, da über das Lesen tatsächlich ein Zusammenhang besteht. Auf das Wie kommt es dabei an. Vor allem beim zu nahen Lesen wird das Auge zum übermäßigen Wachstum angeregt. Die Folge: Kurzsichtigkeit, medizinisch als Myopie bezeichnet, entsteht.
Aufpassen müssen insbesondere Kinder und Jugendliche, denn Kurzsichtigkeit bildet sich vor allem in jungen Jahren aus. Sie hat durch die Nutzung von digitalen Endgeräten, in erster Linie Smartphones, sowie einem veränderten Freizeit- und Spielverhalten weltweit immer mehr zugenommen. Eklatant viele Brillenträger beherbergt Asien. In China sind in manchen Regionen bis zu 90 Prozent der jungen Erwachsenen betroffen.
Und auch hierzulande ist Myopie wie andere Fehlsichtigkeiten ein Volksleiden. Insgesamt benötigen über 60 Prozent aller Bundesbürger über 16 Jahre eine Sehhilfe. Auch darin könnte ein Grund liegen, warum die Brille immer populärer wird: Sie ist in der deutschen Bevölkerung einfach sehr verbreitet. Doch die Akzeptanz der Brille reicht noch weiter. Seit Jahren steigt die Zahl der Menschen, die in ihr ein modisches Accessoire wie Gürtel oder Schmuck sehen.
„Die Brille wird nicht mehr als medizinische Notwendigkeit wahrgenommen, sondern als Stilelement und Ausdruck von Persönlichkeit. Auch die jüngere Zielgruppe trägt verstärkt und selbstbewusst Brille“, erklärt Marco Hering, Marketing Manager bei Lunor – einem international bekannten und bei zahlreichen Hollywood-Stars beliebten Brillenhersteller aus Baden-Württemberg.
Das kommt auch im Optikergeschäft an, bestätigt Daniela Kupferschmidt, Geschäftsführerin des Frankfurter Optikhauses Müller, das eine 360 Grad- Versorgung bietet – von einer großen Auswahl an Brillen, Kontaktlinsen und Sehhilfen über Messtechniken bis hin zum Schleifen der Gläser in der hauseigenen Werkstatt. „Man merkt auf jeden Fall, dass sich die Einstellung verändert hat. Das wird schon beim Reinkommen deutlich. Beim Einkauf dominiert das Lust- statt Frustprinzip: Den Kunden ist ein Besuch bei uns nicht lästig, sie haben Spaß daran.“
Dieser Bewusstseinswandel sei schon bei den Kleinsten feststellbar. „Während Kinder früher heulend ins Geschäft kamen, sind sie heute vergnügt und freuen sich oftmals sogar, sich eine Brille aussuchen zu dürfen. Heute wird deswegen niemand mehr gehänselt. Die Brille gehört zur Normalität.“ Außerdem habe man einige Kunden, die ohne Sehschwäche Brille tragen wollten. „Denen fertigen wir allerdings keine Brille mit Fensterglas an, das würde man auf den ersten Blick erkennen. Die erhalten ebenfalls optische Gläser – nur eben in der Stärke Null.“
Zum Imagewechsel der Brille hat unter anderem die Hipster-Bewegung seit Mitte der 2000er beigetragen. Denn neben Wollmütze, Jutebeutel und Holzfällerhemden gehörte eben auch eine markante Brille – bevorzugt die Nerd-Form in Hornoptik – zu den Erkennungsmerkmalen dieser Subkultur. Immer mehr junge Erwachsene sah man plötzlich in den Cafés und Bars sitzen, mit Vollbart oder leger zusammengestecktem Dutt, und einem XXL-Gestell auf der Nase.
Auch Blogger präsentierten stolz ihre neuesten Errungenschaften. Nerd-Brillen machten einen ähnlichen Wandel durch wie Skinny Jeans. In den 90ern als „Karottenhosen“ für untragbar erklärt, galt rund zehn Jahre später ausschließlich die enge Beinform als akzeptabel. Understatement ist out, schien die neue Brillenfassung der jugendlichen Avantgarde zu suggerieren.
Die randlose Brille, einst für ihre Unauffälligkeit geschätzt, wurde nun just wegen dieser verachtet. Mut zum Markanten – der zu dieser Zeit etablierte Trend hat sich bis heute gehalten. Eine Entwicklung, die ebenfalls wesentlich durch die veränderte Wertschätzung der Brille zu erklären ist, weiß Daniela Kupferschmidt. „Früher sah man die Brille als notwendiges Übel, wollte folglich, dass sie so wenig wie möglich präsent ist. Heute gibt es dazu quasi eine Gegenbewegung: Man trägt die Brille selbstbewusst, in markanten Formen und Farben.“
Trag’s mit Fassung!
Die Nerd-Brille hielt sich lange, mittlerweile jedoch sind viele andere Fassungen auf dem Markt gefragter. „Retro geht eigentlich immer gut“, sagt Daniela Kupferschmidt. „Aktuell sind vor allem die 70er und 80er Jahre angesagt. Doppelsteg kommt zum Beispiel wieder und Metall als bevorzugtes Material. Ebenfalls in: Clip-Gestelle –Sonnenbrillen, die man auf die optischen Gläser draufklappen kann. Daneben sehen wir nicht nur im Independent-Bereich blau oder grün verspiegelte Gläser.“
Auf die Vorliebe der Kundschaft für Vintagemodelle setzt man auch bei Lunor. „Unsere Designphilosophie orientiert sich nicht an kurzweiligen Modetrends, sondern an klassischen Vintagemodellen, die zeitgemäß interpretiert werden“, erläutert Marco Hering. 2016 sieht er tendenziell etwas filigranere Fassungen mit dünnerem Rand auf den Markt kommen. Von der eckigen Nerd-Brille geht der Trend zudem hin zu runderen Formen. Die Panto-Brille etwa, wie sie seit Längerem von Celebrities wie Johnny Depp oder Ryan Gosling getragen wird, ist einer der Favoriten für 2016.
Auch die Nickelbrille à la John Lennon ist wieder gefragt. Ein weiteres beliebtes Gestell bei Lunor ist das Classic Round- Modell, dessen prominentester Träger Steve Jobs war. „Uns erreichen auf Facebook regelmäßig Anfragen konkret nach dieser Fassung. Auch aus fernen Ländern wie Indien, Peru oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo es zurzeit noch keinen Lunor-Vertrieb gibt.“ Eine Brille, die vor allem Frauengesichtern schmeichelt, ist die Cateye-Brille. Auch ihr sagt Daniela Kupferschmidt in diesem Jahr ein Comeback voraus.
Das Schmetterlingsdesign des Modells war einst in den 50ern en vogue. Mit ihnen unterstrichen bereits Marilyn Monroe und Grace Kelly ihre femininen Gesichtszüge. Während diese Brillen damals jedoch eher extravagant ausfielen, setzt man heute auf alltagstaugliche Gestelle. Weniger hart soll es in diesem Jahr nicht nur bei der Form, sondern auch bei der Farbe sein: Statt reinschwarz dominieren Beerenfarben wie Violett und Rot sowie die unterschiedlichsten Brauntöne und sanfte Ombré-Übergänge. „Auch die Acetatfarbe Havanna ist sehr beliebt“, weiß Marco Hering.
Dass insgesamt die Qualität der Brille eine größere Rolle als früher spielt, dessen ist sich der Lunor-Marketingchef sicher: „Wir bei Lunor sind überzeugt, dass viele Kunden den Wert einer Brille, vor allem auch, wie und wo diese gefertigt wird, wieder mehr schätzen und sich das Qualitätsempfinden sowie die Bereitschaft, dafür zu investieren, erhöht haben.“ Dies komme auch dem Produktionsstandort Deutschland zugute. „Betrachtet man die Entwicklung in den vergangenen Jahren, können wir feststellen, dass Qualität und die Herstellung ‚made in Germany‘ wieder stark an Bedeutung gewinnen.
„Die Brille wird nicht mehr als medizinische Notwendigkeit wahrgenommen, sondern als Stilelement und Ausdruck von Persönlichkeit.“ Marco Hering
Sowohl Optiker als auch Endkunden suchen gezielt nach Marken, die eine authentische Geschichte erzählen und sich von der industriell gefertigten, anonymen Massenware abheben.“ Daniela Kupferschmidt hat in ihrem Optikgeschäft dieselbe Erfahrung gemacht. „Die Priorisierung der Qualität hat stark zugenommen. Früher reichte ein Branding am Bügel, heute wird ganz genau auf die Verarbeitung geschaut. Wir merken das stark im Verkauf. Es wird immer mehr Manufakturware verkauft, Lunor oder Moscot.
Dass mehr Geld in die Brille investiert wird, ist natürlich toll für die Branche.“ Sehen und gesehen werden. Die gestiegene Wertschätzung der Brille erscheint nur folgerichtig, führt man sich vor Augen, wie stark sie das Erscheinungsbild eines Menschen verändert. Ihre Bedeutung für die Attraktivität ist enorm. „Die Brille sitzt an prominenter Stelle im Gesicht und wird bei Augenkontakt oder beim Betrachten des Gegenübers sofort wahrgenommen“, konstatiert Marco Hering. „Kein anderes Accessoire hat einen so prägenden Einfluss auf die Ausstrahlung einer Person. Denkt man an berühmte Persönlichkeiten wie Steve Jobs oder Elton John, so denkt man unweigerlich auch an die Brille der Person.“
Auch beim Brillenhersteller Mykita, zu dessen Fans Cate Blanchett oder Kendall Jenner zählen, ist man davon überzeugt: „Nur wenige Accessoires können einen Look so transformieren wie eine Brille“, sagt Xenia Deger, die PR-Direktorin von Mykita. Das Berliner Unternehmen gilt als technischer Pionier der Branche: Es stellt seine hochwertigen Fassungen mittels digitaler Maßanpassung her. Diese Art der Fertigung gewährleiste, so Deger, eine „präzise Anpassung von Rahmen und Gläser an die individuelle Topografie des Gesichts.“
„Früher reichte ein Branding am Bügel, heute wird ganz genau auf die Verarbeitung geschaut.“ Daniela Kupferschmidt
Auch allgemein ist die auf dem Markt erhältliche Variantenvielfalt bei Brillen heute groß wie nie. Sie können den unterschiedlichsten Typen gerecht werden. Unter anderem sind es Gesichtsform, Farbe des Teints und der Haare, Figur und Kleidungsstil, die darüber entscheiden, ob ein Modell zu einem passt. Doch die Vorgaben sind hier nicht mehr so strikt wie früher, erklärt uns Daniela Kupferschmidt. „Man berät heute flexibler. Starre Richtlinien wie eine runde Brille für Menschen mit eckigen und eine eckige für Menschen mit runden Gesichtsformen werden dem Einzelnen nicht gerecht.
Und sie sind auch wegen der stark gestiegenen Sortimentsvielfalt obsolet geworden. Es gibt mittlerweile so viele verschiedene runde oder eckig Fassungen, dass wirklich für jeden etwas Vorteilhaftes gefunden werden kann.“ Nicht nur bezogen auf das Outfit, sondern auch auf den Anlass kann es dabei ratsam sein, bei der Fassung zu variieren. Denn eine Brille beeinflusst nicht nur die Optik. Sie ist zugleich ein Statement, wirkt imagebildend.
„Eine Brille trägt in großem Maße dazu bei, wie man von anderen wahrgenommen wird“, sagt Daniela Kupferschmidt, „wenn man als junger Mensch etwa in berufliche Verhandlungen tritt, beispielsweise beim Vorstellungsgespräch, dann kann die richtige Brille zu einem überzeugenden Auftritt beitragen: Sie kann einen durchsetzungsfähiger oder herber erscheinen lassen. Zu anderen Gelegenheiten kann eine Brille auch das Gegenteil bewirken und eine Dame mit markantem Äußeren lieblicher erscheinen lassen, falls das gewünscht ist.“
Das führe auch dazu, dass sich immer mehr Menschen verschiedene Brillen zu unterschiedlichen Anlässen kaufen würden – „wie es ja auch bei Schuhen der Fall ist.“ Der Hauptfokus beim Kauf muss Kupferschmidt zufolge allerdings immer darauf liegen, dass die Brille zum Wesen der Person passt und dieses widerspiegelt. „Der Kunde darf sich nicht verkleidet fühlen. Viele Menschen können ganz schwer einschätzen, wie sie auf andere wirken. Man sieht sich ja selbst ganz anders als alle anderen.“
„Die Brille ist für Kunden nicht einfach eine Sehhilfe, sondern ein Stück Lebensqualität.“ – Daniela Kupferschmidt
Für Optiker sei in der Beratung ein ausgeprägtes Feingefühl unerlässlich. „Man muss auf die zwischenmenschlichen Schwingungen achten, um herauszufinden, was für einen Charakter und was für ein Temperament der Kunde hat.“ Ein Kaufabschluss sei dabei nicht entscheidend. „Wir möchten ja, dass der Kunde zu uns zurückkommt und legen deshalb Wert auf eine ehrliche, transparente und glaubwürdige Beratung.
Dazu gehört auch, dass man offen sagt, welche Brille man nicht für passend hält. Das ist uns ganz wichtig zur Vertrauensbildung.“ Belohnt werde eine qualifizierte Beratung in dem Moment, in dem der Kunde seine neue Brille das erste Mal auf die Nase setze. „Der erste zufriedene Blick in den Spiegel, die Freude beim Betrachten. Man merkt dann, die Brille ist für Kunden nicht einfach eine Sehhilfe, sondern ein Stück Lebensqualität.“