Seit 30 Jahren dreht Andreas Kieling Naturfilme. Seine Expeditionen führen ihn nach Alaska, in den Kongo, nach Tansania, zu Bären, Berggorillas oder Elefanten. Der gebürtige Thüringer, der zuvor Seemann und Förster war, hat dennoch sein Herz für seine Heimat nie verloren, wie er im Interview mit Sabine Börchers erzählt.
Normalerweise sind Sie auf Reisen durch die Welt und höchstens zwei Monate
im Jahr auf Ihrem Bauernhof in der Eifel anzutreffen. Das war durch Corona nicht möglich. Was haben Sie gemacht?
Ich war zu Hause, aber auch viel unterwegs. Wir haben für die ZDF-Serie Terra X drei neue Folgen in der Reihe „Kielings wilde Welt“ gedreht, die vor einem Monat gezeigt wurden. Der dritte Teil hat ausschließlich in Deutschland gespielt. Es war dann interessanterweise die erfolgreichste Folge der Ausstrahlung. Da ging es um Steinböcke, um Kegelrobben, um wilde Honigbienen auf der Schwäbischen Alb. Ich filme sehr gerne in Deutschland und habe all die Jahre, in denen ich in der Welt unterwegs bin, Deutschland nie aus den Augen verloren. Im Gegenteil, es hat immer einen hohen Stellenwert gehabt. Die aufregendsten Jahre, die ich erlebt habe, waren in Alaska, Zentralafrika, in Namibia und im Himalaja, aber Deutschlands Natur fasziniert mich bis heute.
Was fasziniert Sie genau daran?
Tierfilmer zu sein, ist eine Leidenschaft. Deutschland hat eine hohe Biodiversität. Verlierer sind Insekten und Tiere, die eigentlich in kühlen Regionen leben, wie das Auerhuhn, das Birkwild. Die haben es immer schwerer in Deutschland, weil es wärmer wird. Aber, so paradox es klingt, die Klimaerwärmung erhöht auch unsere Biodiversität. Wir haben mehr Einwanderer, die nach Westeuropa kommen, als Arten, die wir verlieren. Wenn wir Tierarten verlieren, dann ist das immer begründet durch den Verlust an Lebensraum, etwa durch die moderne Landwirtschaft mit ihren Monokulturen und dem massiven Einsatz von Pestiziden.

Ist es einfach, in Deutschland Tierfilme zu drehen?
Nein. Es ist deutlich einfacher, im Ngorongoro-Krater in Tansania einen Film über Tüpfelhyänen oder in Alaska einen über Grizzlybären zu machen als einen spektakulären Film über Wildschweine in Deutschland. Wir leben in einer Kulturlandschaft, hier prallen sehr viele Interessenskonflikte aufeinander. Menschen gehen in der Natur ihren Freizeitaktivitäten nach – was ihnen auch gegönnt sei –, es gibt immer mehr Hunde. Ich bin ja selber ein großer Hundefreund. Aber das bedeutet auch, die Wildtiere werden immer dämmerungs- und nachtaktiver, sie kommen immer später raus und sind daher immer schwieriger mit der Kamera einzufangen.
Kegelrobben, die größten Beutegreifer, die wir in Deutschland haben, sind an der Ostsee und Nordsee einfach zu filmen, aber die Steinböcke in den Allgäuer Alpen, die wir fürs ZDF gedreht haben, waren scheu und hatten Fluchtdistanzen von mehreren 100 Metern. Wir haben auch Wildbienen gefilmt. Dass es in Deutschland noch wilde Honigbienen gibt, aus denen offensichtlich auch mal unsere domestizierten Arten herausgezüchtet wurden, das ist spektakulär und das interessiert die Menschen unter Umständen mehr als eine Geschichte über Elefanten im Amboseli-Nationalpark in Kenia. Da hat ein Umdenken stattgefunden. Naturschutz fängt bei uns in Deutschland an. Wenn ich mich hier starkmache, dann blicke ich automatisch über den Tellerrand. Wenn man Deutschland versteht, die Tier und Pflanzenwelt, mit ihren Problemen, aber auch ihren schönen Seiten, dann wird man wahrscheinlich die ganze Welt verstehen.
Was ist Ihrer Meinung nach dringend notwendig, um die Natur zu schützen?
Ich will das gar nicht so negativ sehen. Wir tun eigentlich relativ viel für den Naturschutz in Deutschland. Denken Sie an Kraniche, Fischadler, Wildkatzen oder Großtrappen – die habe ich vor ein paar Wochen gefilmt, ein sehr imposanter Vogel mit fast 18 Kilogramm Gewicht, der zweitschwerste flugfähige Vogel auf der Erde. Von ihm gibt es noch eine Population im Havelland, die wächst. Wenn so eine seltene Art geschützt wird, werden automatisch andere Arten mit geschützt.
Man hat im Havelland große Gebiete renaturiert und unter Naturschutz gestellt. Natürlich könnten es noch mehr sein, aber davon profitieren auch andere Tiere, die Wiesenweihe, das Rebhuhn, die Feldlerche, der Kiebitz und die vielen Insekten. Da greift eins ins andere und das ist genau das Richtige. Man schützt eine Vorzeigewildtierart und gleichzeitig schützt man den Lebensraum komplett. Wir brauchen die Vernetzung von größeren Lebensräumen, wenn wir bestimmte Tierarten erhalten wollen. Da wird eigentlich in Deutschland viel getan.
Brauchen wir auch mehr„Wildnis“ im Land?
Wir sind eine Kulturlandschaft. Der Begriff „Wildnis“ wird oft völlig falsch verstanden. Wenn viele an den Luchs, an den Wolf denken oder den Uhu, denken sie an die hintersten Täler des Schwarzwaldes oder des Spessarts, wo nie Menschen hinkommen, wo sich die letzten armen Tiere vor lauter Angst vor uns Menschen in die entlegensten Regionen zurückgezogen haben und dort gefangen oder geschossen wurden. Wenn man es aber realistisch sieht, sind viele Tiere dazu bereit, in unserer menschlichen Nähe zu leben. Nur, wir Menschen müssen es auch sein. Dass das nicht immer konfliktfrei ist, ist klar. Keiner will im Speckgürtel von Frankfurt einen Wolf haben. Aber er ist dort durchaus lebensfähig, wenn er genügend Jagdwild findet.

Es gibt Beispiele aus Italien, aus den Abruzzen, oder aus Indien, wo Wölfe oder Leoparden in Dorfnähe leben. Wir haben vor zwei Jahren in Slowenien gedreht. In diesem kleinen Land, in dem es aussieht wie im Spessart oder im Odenwald, leben 1.000 Braunbären. Da gibt es auch Wölfe und Luchse. Die Menschen haben nie verlernt, mit diesen Tieren zusammenzuleben. Die werden durchaus bejagt, damit der Bestand nicht stärker steigt, aber man ist auch stolz darauf, dass es die Tiere dort gibt. Und interessanterweise sind die Konflikte relativ gering.
Das hat damit zu tun, dass dort eine größere Akzeptanz herrscht. Wenn bei uns am Stadtrand von Köln ein Wolf auftaucht, dann heißt es in der Zeitung als Schlagzeile, „Hilfe, bringt eure Kinder in Sicherheit“. In Slowenien wäre das nicht mal eine Nachricht auf Seite 4. Das ist der Unterschied, wir unterscheiden in Gut und Böse. Wir wollen der Natur vorschreiben, dass das eine Tier hier leben darf, auch gerne in größerer Stückzahl, aber das andere wollen wir nicht überall haben oder am besten gar nicht. Da sehe ich als Tierfilmer die Herausforderung, mit meiner Arbeit Menschen möglichst objektiv zu informieren und aufzuklären.
Was können wir als Stadtbewohner denn tun, um besser mit Wildtieren zusammenzuleben?
Einfach eine größere Toleranz und Akzeptanz zeigen. Die Tiere sind ja schon da, gehen Sie mal in den Stadtwald, da leben Hirschkäfer. Das ist ein extrem seltenes Großinsekt, das sieben Jahre für seine Metamorphose braucht. Oder gehen Sie nach Wiesbaden und sehen, welchen Vogelreichtum es dort gibt. Aber in dem Moment, wo der Steinmarder das Kabel meines Autos durchfrisst und ich morgens nicht zur Arbeit komme oder die Wildschweine den Garten umflügen, dann ist das Geschrei groß. Wir sind, und da stehe ich dazu, auch wenn ich mich damit nicht beliebt mache, eine sehr befindliche Gesellschaft. Speziell wir Deutschen. In anderen Ländern ist man, was die Natur angeht, viel toleranter, auch gegenüber der Nähe von Wildtieren zu Siedlungen.
Ich habe ein Foto von einem Löwenrudel vor der Skyline von Nairobi, die ähnlich aussieht wie die Frankfurter. Da ist nur ein kleiner Zaun zur Autobahn, die beide trennt. Die Menschen leben mit den Tieren, weil sie es nicht anders kennen. Wir haben aber vor 170 Jahren den letzten großen Beutegreifer um die Ecke gebracht. Die, die ihn geschossen oder gefangen haben, wurden wie Volkshelden gefeiert und es wurde ein Gedenkstein aufgestellt. Das ist ein typisches Beispiel für unsere Haltung gegenüber der Natur. Einerseits lieben wir sie, andererseits fürchten wir sie auch. Da muss ganz viel Aufklärungsarbeit geleistet werden.
Wie sehen Ihre nächsten Pläne aus?
Es geht zu den Grizzlybären nach Nordalaska, aber auch nach Brandenburg, wo wieder erstaunlich viele Elche leben und in die Vulkaneifel, wo trotz des Tourismus eine große Artenvielfalt herrscht. Es geht ins Oberrheintal, im Bereich des Kaiserstuhls, wo wir mediterrane klimatische Bedingungen haben. Da leben Tiere und Pflanzen, die wir sonst in Deutschland nicht haben, und wir gehen der Frage nach: Was können wir von dieser Region lernen, weil es diese Landschaft schon seit Hunderten von Jahren gibt und Tiere und Pflanzen mit der Wärme erstaunlich gut klarkommen und dort z. B. Bäume wachsen, die jetzt erst als klimastabil propagiert werden wie die Weißtanne, Walnuss, Esskastanie und Wildkirsche. Das sind nur ein paar Projekte, es gibt noch viele mehr.

Man sagt, die wichtigste Eigenschaft eines Tierfilmers sei Geduld. Empfinden Sie das auch so?
Geduld ist sicher eine Tugend, die man mitbringen sollte. Jetzt bin ich nicht unbedingt der geduldigste Mensch. Ich glaube, das viel Entscheidendere ist, ein Gespür für die Natur und die Tiere zu haben. Alle Kollegen, die ich kenne, die Tierfilme machen, die kommen aus der Zoologie, aus der Biologie, aus der Forstwirtschaft und beschäftigen sich von klein auf mit Tieren. Man muss über die Tiere viel wissen und Einfühlungsvermögen besitzen. Das kann man nur bedingt erlernen. Und man muss fasziniert sein davon.
Und das lässt offensichtlich bei Ihnen nicht nach.
Ich bin jetzt 61 Jahre alt, ich dachte, dass es mit dem Alter nachlässt. Ich mache dieses Jahr seit Jahren Naturfilm. Angefangen habe ich 1991 in Alaska, bin damals sechseinhalb Monate lang mit dem Kanu den Yukon-River runtergepaddelt, fast 3.500 Kilometer von den Quellen bis zur Beringsee. Das hat mich nachhaltig beeindruckt, sodass ich davon nicht mehr los kam. Das ist auch der Grund, warum ich alleine 20 Jahre lang in Alaska Filme über Eisbären, über Grizzlys, über Elche, Wölfe und die großen Tierwanderungen gemacht habe. Diese Faszination haben, glaube ich, alle Tierfilmer. Ich habe am meisten den Eisbären und den Grizzlybären zu verdanken und alleine sechs Filme über Eisbären gedreht. Bei mir ist es so, dass ich mich auch heute noch von vielen Orten auf der Erde verabschiede, mit dem Versprechen, dass ich, sobald es geht, zurückkehre, auch um zu sehen, wie haben sie sich entwickelt oder verändert, im Positiven wie im Negativen.
Welche Orte sind das?
Die Wüstenelefanten in Namibia, da bin ich schon mehr als zehn Mal gewesen, oder die Wölfe im Hochland von Äthiopien, das ist der seltenste Großsäuger der Erde, seltener als ein Berggorilla oder ein Großer Panda. Ich war, glaube ich, schon zwölf Mal bei den Berggorillas, davon nur zweimal für einen Dreh, weil mich die Tiere so faszinieren. Und zu den Schimpansen am Tanganika-See muss ich einfach immer wieder hin und freue mich schon auf das nächste Mal. Auch für Alaska empfinde ich eine nicht enden wollende Sehnsucht und Liebe.
Ich war dagegen noch nie auf Mallorca, obwohl es sicher eine spannende Insel ist. Aber ich kehre gerne an Orte zurück, an denen ich sehr eindrückliche Erlebnisse oder Begegnungen hatte. Island oder die Steppe Kasachstans zum Beispiel, ich würde da gerne wieder hin, weil es fantastische Lebensräume sind. Es sind nicht die spektakulären Orte, eher die abgeschiedenen, ruhige Orte, auch in Deutschland, die ich bevorzuge. Ich fahre regelmäßig zu einem alten Truppenübungsplatz in den östlichen Bundesländern und bin auch sehr gerne in der Eifel unterwegs.

Wie schwer ist es Ihnen gefallen, im vergangenen Jahr nur in Deutschland zu drehen?
Gar nicht schwer, ich hab es genossen. Ab April 2020 bis jetzt waren wir nicht mehr groß im Ausland. Aber die Drehs in Deutschland waren so spannend und erlebnisreich. Ich könnte durchaus noch zwei oder drei Jahre weiter nur in Deutschland filmen, hätte tolle Ideen und wüsste auch, dass diese Filme bei Terra X sehr gut laufen würden.
Vor 12 Jahren bin ich mit meiner Hündin Cleo entlang der alten deutsch-deutschen Grenze durchs Land gewandert, das könnte ich jederzeit wieder machen. Wenn man den Blick nicht verliert und die Lust daran, sich auch mal zu bücken und zehn Minuten andachtsvoll vor einem Ameisenhaufen zu knien und zu schauen, was da alles passiert. Oder Vogelbeobachtungen, vielleicht sogar bei der Balz, oder Amphibien und Libellen an einem Gewässer, vielleicht ganz in der Nähe von Frankfurt, das ist einfach spannend. Wenn man diese Gabe noch besitzt, dann ist man ganz dabei, und der Seele tut es auch gut.
Das Interview führte Sabine Börchers
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