2018 wurde erstmals mehr mit Karte als mit Bargeld bezahlt. Das Bezahlen per Smartphone und App hat die starke Stellung des Bargelds erschüttert, zumal auch das kontaktlose Bezahlen immer beliebter wird. Die Entwicklung geht voran, angetrieben auch von China mit Plattformen wie Alipay und WeChat Pay. Von Thomas Zorn
Nur Bares ist Wahres. Der Wahlspruch hatte in Deutschland lange Gültigkeit. Noch immer wird hierzulande so gern mit Münzen und Scheinen bezahlt wie fast nirgendwo sonst auf der Welt. Doch die Bastion wackelt. In Deutschland wurde laut einer Studie des Handelsinstituts EHI 2018 erstmals mehr mit Karte als mit Bargeld bezahlt.
Der Siegeszug des mobilen Bezahlens per Smartphone und App hat die starke Stellung des Bargelds erschüttert, zumal auch das kontaktlose Bezahlen immer beliebter wird. Noch können sich die meisten Deutschen nicht vorstellen, ganz auf Hartgeld und Banknoten zu verzichten. Dennoch prophezeite ein Experte wie John Cryan, der ehemalige Chef der Deutschen Bank, dass es mit Bargeld innerhalb von zehn Jahren zu Ende gehe.
Eine solche Prognose erscheint zumindest für die Bundesrepublik reichlich kühn, auch wenn die 2018 gestarteten Bezahldienste von Google Pay und Apple Pay für viel Wirbel sorgen. Die Volks- und Raiffeisenbanken sowie die Sparkassen wollen noch in diesem Jahr den mobilen Bezahldienst des iPhone-Herstellers unterstützen. Sie haben sich lange gewehrt, doch der Erfolg von Apple Pay scheint nun doch zu groß zu sein. Damit beugen sich die zwei großen deutschen Banken dem Druck des Marktes. Ursprünglich hatten sie versucht, ein Konkurrenzangebot zu etablieren.
In anderen Ländern, vor allem in Skandinavien, ist richtiges Geld beinahe schon zum Anachronismus geworden. Für die meisten Deutschen hört beim Bezahlen der Spaß auf. Sie gelten in Gelddingen als extrem konservativ. Man verlässt sich auf das, was in der Tasche klimpert. Selbst die Kredit- oder Girokarte wurde bisher bei geringen Beträgen kaum eingesetzt. Viele kleine Geschäfte nehmen sie bis heute nicht an. Im Vergleich zu anderen Staaten stiegen die bargeldlosen Transaktionen zwischen 2010 und 2016 nur im Schneckentempo. Eine Studie weist in diesem Zeitraum pro Kopf ein Anwachsen von nur sieben Prozent aus.
Stolz auf harte Währung
Während sich andere Ländern rapide ins digitale Zeitalter katapultierten, kramten die Deutschen beim Bäcker oder im Supermarkt umständlich im Portemonnaie. Selbst „Cash-Loyalisten“ wie Portugal oder Spanien bewegten sich rascher in Richtung moderner Zahlungsmethoden. Deutschland rangiert weit hinten.
Die Angst, dass Staat oder Wirtschaft jede Zahlung nachverfolgen könnten, bestärkt die Vorbehalte. Als 2016 der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble Obergrenzen für Bares als Mittel zur europaweiten Bekämpfung von Kriminalität und Schwarzgeld ins Spiel brachte, war das Entsetzen groß. Noch immer ist das Vertrauen in Münzen und Noten zwischen Flensburg und Passau gewaltig.
Die Anhänglichkeit hat wohl auch mit der eigenen Geschichte zu tun. Nach den Nazi-Verbrechen und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs identifizierte sich die Nation über wirtschaftlichen Erfolg und die harte deutsche Mark. Der Glauben an ihre Stärke beförderte das Selbstbewusstsein und auch die Wiedervereinigung des Landes.
Cash als Freiheitsversprechen
Die Mark für den Euro aufzugeben, fiel schon schwer. Doch es blieb die Hoffnung, dass eine kräftige Währung, die man auch in der eigenen Börse fühlen kann, vor den Unwägbarkeiten des Lebens schützt. Für Menschen, die sich von der Digitalisierung bedroht fühlen, bedeutet Bares ein Stück Freiheit. Das belegen auch Statistiken: Laut einer Untersuchung der Europäischen Zentralbank trugen die Deutschen 2016 im Schnitt 103 Euro mit sich herum – weit über dem Durchschnitt in der Eurozone mit 65 Euro.
Doch trotz allem geht es mit dem Bargeld auch in Deutschland bergab. Nach Angaben der Bundesbank werden inzwischen weniger als die Hälfte aller Einzelhandelsumsätze mit Scheinen oder Münzen abgewickelt. Die meisten Geschäfte haben ihre Terminals auf Nahfeldkommunikationstechnik (NFC) umgestellt. Das kontaktlose Zahlen beschleunigt die Abläufe an der Kasse rasant. Es reicht, die neuen, mit einem Wellensymbol bedruckten Giro- oder Kreditkarten vor das Lesegerät an der Kasse zu halten und schon wird abgebucht.
Zahlen per Smartphone
Das funktioniert genauso mit Smartphone oder Smartwatch und wirkt sogar noch cooler. Die Brieftasche kann so jeder getrost zu Hause lassen. Eine „überraschend hohe Zahl“ von 30 Prozent der Bundesbürger zahle bereits mobil, berichtet Achim Berg, der Präsident des Digitalverbands Bitkom. Apple Pay und Google Pay haben eingeschlagen. Das mobile Zahlen wird alltäglich. Nach einer von Bitkom in Auftrag gegebenen aktuellen Erhebung verwenden es 53 Prozent der Nutzer beim Einkauf im Supermarkt und 34 Prozent beim Shopping von Mode, Technik oder Möbeln. Jeder Sechste bezahlt damit Fahrkarten.
Auch wenn einige Daten- und Verbraucherschützer davor warnen, dass bei jedem Zahlungsvorgang Spuren im Netz zurückbleiben, wollen die meisten sich nicht den Spaß verderben lassen. Gerade bei Jüngeren verfangen Warnungen nicht sonderlich. Sie finden vor allem das bargeldlose Bezahlen per Handy oder Armbanduhr praktisch. Dahinter steckt auch die Erwartung, dass wir in einem grenzenlosen Zeitalter beschleunigter Kommunikation und unendlicher virtueller Möglichkeiten leben.
Besonders von Technik faszinierte jüngere Männer stürzen sich auf das Angebot. Nicht alle Verbraucher freilich glauben, dass keine relevanten Daten weitergereicht würden. Wer sich nicht darauf einlassen möchte, hat laut der jüngsten Bitkom-Umfrage überwiegend Sicherheitsbedenken – 60 Prozent. Fast jeder Dritte hält das Prozedere für zu kompliziert. Etliche haben noch gar nicht mitgekriegt, welche Zahlungsmethoden heute schon funktionieren. Mittlerweile können sich immerhin schon 44 Prozent vorstellen, auch ohne Geldbeutel unterwegs zu sein. Gleichwohl wollen 54 Prozent auf Bargeld weiterhin nicht verzichten. 28 Prozent – die Hardcore-Fraktion – würde dessen Abschaffung auf „keinen Fall“ hinnehmen.
Unterschiede beim Mobile Payment
Noch gibt es beim Mobile Payment eine Vielzahl unterschiedlicher Verfahren. Pionier war in Deutschland Wirecard mit der App „Boon“. Das 2015 eingeführte System basiert auf einer virtuellen Prepaid-Mastercard. Die Deutsche Bank integrierte das mPayment Anfang April 2017 in ihre reguläre Banking-App für Android. Google Pay, seit Juni 2018 verfügbar, kooperiert mit Commerzbank, Comdirect, N26, der BW-Bank und Paypal. Die Sparkassen lancierten im August 2018 die App „Mobiles Bezahlen“. Die Volks- und Raiffeisenbanken schließlich offerierten ihren von Girocard, Mastercard und Visa unterstützten Android-Service im September 2018.
Apple Pay hat der Entwicklung seit Dezember dann einen enormen Schub gegeben. Die Kalifornier arbeiten schon mit der Deutschen Bank, der Hypovereinsbank, der Online-Bank Comdirect, der Hanseatic Bank sowie den Digitalbanken N26, Bunq und Fidor zusammen. Kunden können auch über „Boon“ darauf zurückgreifen.
Im ersten Halbjahr 2019 sind zudem DKB, Consorsbank und ING bei Apple Pay eingestiegen. Norisbank, Sodexo und die Sparkassen sollen in Kürze folgen. Der US-Konzern aus Cupertino macht es einem leicht. Die Identifikation erfolgt über einen Fingerabdruck mit einer Touch ID oder durch Gesichtserkennung. Die Eingabe eines PINs ist auch bei höheren Beträgen nicht erforderlich.
Schub durch Apple Pay
Die Apple-Power übertrifft die Erwartungen. Die kooperierenden Banken sind beeindruckt. Michael Koch, Digitalexperte bei der Deutschen Bank, vergleicht den Apple Pay-Start mit der vor zwei Jahren eingeführten Bezahllösung für Android-Geräte. „Wir haben in einer Woche mehr Aktivierungen für Apple Pay gehabt als bei Android in einem Jahr“, sagt er. Comdirect ist ebenfalls angetan. Man steuert schon nach wenigen Wochen auf ein beachtliches Hoch zu und spricht von einer sechsstelligen Anzahl registrierter Geräte.
„Wir haben in einer Woche mehr Aktivierungen für Apple Pay gehabt als bei Android in einem Jahr.“ – Michael Koch – Deutsche Bank
Gerätselt wird allerdings, wie hoch der Anteil der Gebühren ist, den die Banken an Apple abgeben müssen. Bisher kassierten die Händler beim Einsatz bargeldloser Methoden allein ab. Fachleute sehen zudem die Gefahr, dass die Banken den Kontakt zu ihrer Klientel verlieren. Apple und Google könnten ihre Finanzdienste ausweiten und die etablierten Mitbewerber bald ins Leere laufen lassen.
Fraglos leben wir in einer Beschleunigungsphase. In Schweden zahlt schon weit mehr als die Hälfte der Einwohner mobil. 2012 hatten sich sieben schwedische Banken zusammengeschlossen und das Zahlungssystem Swish ins Leben gerufen. Für eine Überweisung ist nur die Handynummer des Empfängers nötig.
Auch andere bargeldlose Methoden sind bei den Nordländern gefragt. Selbst Straßenverkäufer und umherziehende Musiker besitzen im Königreich inzwischen Lesegeräte für bargeldlose Transaktionen. Minibeträge wie für einen Coffee to go oder ein Päckchen Kaugummi werden mit Karte oder App bezahlt. Ein Drittel aller Bankfilialen gibt überhaupt nur noch Bares heraus. Wer eine größere Menge Geld mit sich herumträgt, erregt leicht den Verdacht, ein Mafioso zu sein.
Fast bargeldlose Schweden
Niklas Arvidsson, Dozent an der Königlich Technischen Hochschule KTH in Stockholm und Autor der Studie „The Cashless Society“ prognostizierte, man werde in absehbarer Zeit – wahrscheinlich um 2030 – an den Punkt gelangen, an dem die Unterhaltung des Bargeldverkehrs zu aufwendig werde. Björn Ulvaeus, Gitarrist der legendären Pop-Gruppe ABBA, hat schon mal im Selbstversuch ein Jahr lang auf Bargeld verzichtet. Es klappte. Nur für den Einkaufswagen im Supermarkt brauchte er noch Münzen.
„Vergiss deine Konkurrenten. Konzentriere dich einfach auf deine Kunden.“ – Jack Ma – Alibaba
Der Slogan „Cash is King“ ist auch in China von gestern. Platzhirsche sind das 2004 gegründete Alipay und WeChat Pay, das seit 2015 im roten Reich der Mitte am Start ist. Mit über 520 Millionen Nutzern hat es Alipay bei den Online-Bezahlplattformen weltweit an die Spitze gebracht. Der zum Imperium von Jack Ma gehörende Dienst wickelt über die Hälfte der chinesischen Online-Geschäfte ab. 100 Millionen Transaktionen verzeichnet Alipay Tag für Tag.
Dollar der reichste Mann Chinas.
Mitbewerber WeChat war ursprünglich ein reiner Plauder-Kanal. Inzwischen sind 960 Millionen Nutzer registriert, die eifrig auf die inzwischen eingerichtete Pay-Funktion zurückgreifen. Auch in Deutschland ist WeChat Pay tätig. Als Partner steht Wirecard zur Verfügung.
China offenbart die Schattenseiten
Die Erfolge der beiden Unternehmen offenbaren zugleich die Schattenseiten des schönen neuen Zahlens. Den großen chinesischen Online-Unternehmen wird eine gefährliche Nähe zum kommunistischen Regime vorgeworfen. Kritiker beklagen eine Auswertung von Big Data, die weit über das bei uns Erlaubte hinausgeht. Alipay und WeChat Pay werden als Kollaborateure beim Etablieren eines Ranking-Systems begriffen. Die Volksrepublik möchte gesellschaftliches Wohlverhalten mit Bonus-Punkten honorieren und braucht dabei die Unterstützung der relevanten Digitalkonzerne.
Auch wenn mit dem Siegeszug des bargeldlosen Zahlens neue Bedrohungsszenarien denkbar geworden sind, bringt es wenig, vor der Digitalisierung die Augen zu verschließen. Deutschland hinkt zurück, auch bei der Abwicklung des Online-Handels. Der Versuch deutscher Banken, mit Paydirekt dem amerikanischen Konkurrenten Paypal Paroli zu bieten, scheint gescheitert. Während Paypal in Deutschland auf rund 19 Millionen Kunden kommt, erreicht Paydirekt nur einen Bruchteil.
Da klingt eine Meldung aus Antrifttal im mittelhessischen Vogelsbergkreis auch nicht wie ein Aufbruch. Freudig verkündete jüngst die Verwaltung des 2.000-Seelen-Ortes, dass die Bürger anfallende Beträge ab sofort mit der EC-Karte bezahlen dürften. Das haute niemanden im Dorf vom Hocker. „Ist das nicht fast schon die Technik von gestern?“ fragten Leser der Lokalzeitung misslaunig. Doch vielleicht ändert sich auch in Antrifttal bald alles schneller als man glaubt.
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