Im Juli soll erstmals die Frankfurt Fashion Week stattfinden – doch Veranstalter und Designer stehen vor großen Herausforderungen: Alle in der Stadt geplanten Events wurden abgesagt. Wie können die neuesten Kollektionen unter Lockdown-Bedingungen und der Einhaltung der AHA-Regeln dennoch präsentiert werden? Chancen bietet die digitale Welt: Avatare statt Models, virtuelle Kleidung statt echter Stoffe. Top Magazin gibt eine Übersicht über Produkte und Prozesse, die sich auch nach Ende der Pandemie in der Modebranche etablieren könnten.
Sie ist jung, bildhübsch und ihr Name steht im traditionellen Suaheli für Stärke und Kraft: „Hauli“ modelt erst seit einem Jahr und ist für ihre erste Couture-Show bereits in Länder wie Indien oder Italien gereist, posierte vor der Christusstatue in Rio de Janeiro und ließ sich in eleganter Abendrobe in der jordanischen Felsenstadt Petra fotografieren. Die Newcomerin könnte sich schon bald mit Stars wie Karlie Kloss, Stella Maxwell oder Gisele Bündchen messen – mit einem einzigen Unterschied: Das aufstrebende Supermodel ist nicht echt. Hauli ist ein Avatar, ein virtuelles Mannequin, das aus dem Hause Ralph & Russo stammt und für das britische High-Fashion-Label die vergangene Couture-Kollektion Herbst/Winter präsentierte.
Die digitale Fantasie des europäischen Modehauses, die optisch nur schwer von einem echten Menschen zu unterscheiden ist, ist eine Antwort auf die Pandemie. Denn der Lockdown hat auch die Modewelt auf den Kopf gestellt. Fotoshootings und Video-Drehs wurden abgesagt, Models stornierten ihre Flüge, Ateliers und Einzelhandel mussten geschlossen werden. Viele Fashion-Shows wurden komplett gestrichen, einige als Online-Event abgehalten.
Die „London Fashion Week“ reagierte auf die vielen Stornierungen und Auftragsausfälle als Erste mit einer volldigitalen Ausgabe: Auf der „London Fashion Week digital“ präsentierten die Designer ihre Frühjahrs- und Sommerkollektionen 2021 per Video und nahmen die Zuschauer drei Tage lang mit hinter die Kulissen – alles ohne Shows, ohne Laufstege, ohne Live-Publikum.
Herausforderungen für die Fashion-Welt
Für die Zukunft stellt sich nun die Frage: Wie geht es weiter in der Fashion-Welt? „Die Warenströme und globalen Lieferketten sind extrem ins Stocken geraten und es gab und gibt immer noch große Probleme, die entsprechenden Produktionskapazitäten aufrechtzuerhalten. Außerdem sind alltagsbestimmte Regeln wie Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht und Abstand halten aus aktuellem Anlass bereits dabei, die Szene zu verändern“, sagt Olaf Schmidt, Vice President Textiles & Textile Technologies, Messe Frankfurt. Die Messe Frankfurt veranstaltet unter anderem die nachhaltige Modemesse „Neonyt“. Neben Europas größten Modemessen „Premium“ und „Seek“ bildet sie das Herzstück der Frankfurt Fashion Week, die im Juli Premiere feiert. Coronabedingt allerdings nur digital.
Was die Planung betrifft, stehen Veranstalter und Designer allerdings vor großen Herausforderungen. Schmidt: „Die Warenströme und globalen Lieferketten sind extrem ins Stocken geraten und es gab und gibt immer noch große Probleme, die entsprechenden Produktionskapazitäten aufrechtzuerhalten. Zudem kann man aktuell nicht absehen, welche Reiserestriktionen bestehen, wo es den nächsten Lockdown gibt und unter welchen Bedingungen Aussteller, Händler, Besucher und Unternehmen, die an der Messe teilhaben wollen, einreisen können.“
Mode digital denken
In der Krise gut aufgestellt sind laut Thimo Schwenzfeier, Show Director der Neonyt, diejenigen Marken, die bereits in den vergangenen Jahren verstärkt auf Online und Social Media gesetzt haben. „Ein guter Instagram-Account, eine zuverlässige Erreichbarkeit und die Zusammenarbeit mit Influencern schaffen eine starke Community, die entsprechend online einkauft.“
Auch andere digitale Konzepte sorgen für Aufbruchstimmung in der Modeindustrie. Gucci ermöglicht seinen Kunden schon seit über einem Jahr die virtuelle Anprobe von Brillen, Sneakers, Lippenstiften oder Hüten. Mithilfe von Augmented Reality kann man in der unternehmenseigenen App das gewünschte Modell anprobieren und im Online-Shop direkt kaufen. Das italienische Outdoorlabel Napapijri ließ sich bereits virtuelle Kataloge programmieren. Tommy Hilfiger positionierte sich schon vor Corona als Vorreiter innovativer Ideen und kündigte 2019 in einer Pressemitteilung an, seine komplette Produktentwicklung digitalisieren zu wollen. Die Frühjahrs-Kollektion 2022 soll ausschließlich mit einer 3D-Design-Technologie entstehen.
Virtuelle Models
CGI-Models (Computer Generated Imagery) wie „Hauli“ sind eine Seltenheit, aber längst nicht mehr unbekannt in der internationalen Modeszene. Sie zieren Magazincover, laufen digitale Fashion-Shows und präsentieren sich im Netz mit anderen Superstars wie Kim Kardashian. Noonoouri, eine künstliche Kreation des Münchner Grafik-Designers Jörg Zuber, half dem bekannten britischen Hutmacher Stephen Jones im Sommer aus der Krise und präsentierte seine Kollektion. Das Manga-Model mit den großen braunen Augen arbeitete schon für renommierte Marken wie Versace und Balenciaga.
Avatare können auf den biometrischen Daten eines jeden Menschen basieren. Sind die Daten einmal eingescannt, bleibt die Schönheit und Jugend der virtuellen Models für immer erhalten. Mithilfe von Animationen können sich die 3D-Modelle zudem wie reale Menschen bewegen. Burberry-Designer Riccardo Tisci präsentierte im Juli eine Kampagne mit einer Reihe von CGI-Avataren, unter anderem ein virtuelles Mannequin von Kendall Jenner.
Superstar Lil Miquela
Neben ihrer Arbeit als Topmodels sind viele der virtuellen 3D-Geschöpfe auf Social Media als Influencer aktiv. Die Bekannteste unter ihnen mit über 3 Millionen Followern auf Instagram: Miquela Sousa, bekannt als „Lil Miquela“. Das 19-jährige kalifornische Hipster-Girl mit Sommersprossen und Zahnlücke ist eine digital erzeugte Persönlichkeit vom Technologie-Start-up Brud aus Los Angeles. Die Influencerin arbeitete bereits mit bekannten Marken wie Calvin Klein und UGG Boots zusammen.
Seit 2016 postet das virtuelle It-Girl beinahe täglich Fotos und Geschichten aus ihrem Alltag und Liebesleben und äußert sich zu gesellschaftlichen Themen wie Umweltschutz oder Black Lives Matter. Außerdem nimmt sich Lil Miquela viel Zeit für die Kommunikation mit ihrer Community und verteilt fleißig Kommentare und Likes. Praktisch allen Followern dürfte bekannt sein, dass es sich bei ihrer Person nicht um einen echten Menschen handelt – ihre Biografie weist offensichtlich darauf hin. Doch ihre Abonnenten scheint das nicht zu stören. Die künstliche Lil Miquela erntet für ihr Auftreten viel Zuspruch: Komplimente wie „Du bist mein großes Vorbild“, „Ich liebe dich“ und „Du siehst wunderschön aus“ sind zu Hunderten zu finden. 2017 veröffentlichte die junge Halbbrasilianerin ihre erste Single „Not Mine“ und wurde schließlich auch als Sängerin erfolgreich. Auf Spotify gilt sie als verifizierte Künstlerin, die aktuell über 40.000 Follower und über 300.000 monatliche Hörer verzeichnet.
Der Supermodel-Schöpfer
Der 31-jährige Brite Cameron-James Wilson fotografierte früher echte Stars wie Gigi Hadid, heute ist er als der erfolgreichste Creator virtueller Models bekannt. Sein Aushängeschild: „Shudu Gram“, das weltweit erste CGI-Supermodel. Im April 2017 erschien die mysteriöse Schönheit, die laut ihrer Biografie der „Princess of South Africa“-Barbie nachempfunden ist, das erste Mal auf Instagram und zog binnen kürzester Zeit Tausende Follower auf ihr Profil.
Dass es sich bei dem attraktiven Model um ein Kunstprojekt des Modefotografen handelt, erfuhren die Fans erst, als ein kalifornisches Independent-Label Shudu für eine Marketing-Kampagne gewinnen wollte. Kurz darauf enthüllte Wilson das Geheimnis des Social-Media-Phänomens und gab damit den Startschuss für Shudus Model- und Influencer-Karriere. Das virtuelle It-Girl zählt über 210.000 Insta-Abonnenten, trug bereits Lippenstift der Rihanna-Kosmetiklinie Fenty, erhielt eine Editorial-Strecke in der Vogue Australia und posierte für das Pariser Luxuslabel Balmain.
The Diigitals – die Agentur für virtuelle Models
Mit Shudu war auch die Idee von „The Diigitals“ geboren – eine Agentur, die ausschließlich digitale Models verbucht. Im März 2018 ging die Website online. Immer wieder werden dort neue 3D-Modelle vorgestellt, wie das Plus-Size-Model „Brenn“, die nordische Schönheit „Dagny“ oder „Koffi“, das erste männliche Model des Künstlers. Auch wenn Wilson auf Natürlichkeit und Unvollkommenheit achtet, erntet der weiße, männliche Modelschöpfer für seine Vorstellungen von Schönheitsidealen im Netz immer mal wieder Kritik. Dem Erfolg seiner virtuellen Models tut das bislang aber keinen Abbruch – und es scheint, als ob Corona die digitale Entwicklung schneller vorantreibt. Denn Wilson profitiert in der Pandemie-Zeit mit seiner Agentur davon, dass er nur einen PC und ein 3D-Programm benötigt, um seine jederzeit buchbaren Models in alle möglichen Looks zu kleiden.
Im Rahmen der „Miami Swim Week“ produzierte The Diigitals einen virtuellen Runway und präsentierte die Bademode von Lavie by Claude Kameni. Es folgten unter anderem Kooperationen mit Samsung, Louboutin, Lexus und Ferragamo. Balmain-Kreativdirektor Olivier Rousteing ließ sich seinen persönlichen Avatar kreieren und trat mit ihm im digitalen Showroom auf. Was es kostet, wenn man ein virtuelles Model bucht, will Wilson nicht preisgeben. In Interviews verrät er aber, dass ein Engagement nicht günstiger sei als das eines echten.
Modernes Modebewusstsein
Thimo Schwenzfeier ist der Meinung, dass digitale Konzepte in der Fashion-Branche Zukunft haben. „Ich denke, es dauert noch fünf bis zehn Jahre, dann ist es gang und gäbe, dass die Avatar-Technik von einer Generation, die selbstverständlich mit Social Media und Digital Devices aufwächst, auch eingesetzt wird.“ Dass virtuelle Models echte Menschen ersetzen können, hält er zum jetzigen Zeitpunkt aber für unwahrscheinlich: „Die digitale Revolution steckt noch in den Kinderschuhen. Ich kann mir dennoch sehr gut vorstellen, dass durch sie die Art und Weise, wie wir Mode kaufen, ein Stück weit nachhaltig verändert wird. Im Idealfall shoppt man nur noch Bekleidung, die auch wirklich passt und gefällt.“
Virtuelle Klamotten hätten für Influencer gleich mehrere Vorteile: „Für die perfekte Selbstinszenierung sind sie ideal, da sie auf ihren Träger perfekt zugeschnitten werden und meist auch noch einzigartig sind – sowohl in ihrer Machart als auch in ihrer Existenz.“ Dass der Mensch dafür künftig auf physische Bekleidung verzichtet, kann er sich nicht vorstellen. Schwenzfeier: „Am Ende geht es darum, dass wir uns im echten Leben anziehen und schön machen wollen.“
Bis dato hat sich die virtuelle Mode nur in einer Welt durchsetzen können: in der Gamer-Community. Durch Ingame-Käufe können Zocker sogenannte Skins, also Kleider und Kostüme, für ihren Avatar erwerben. So machte die Firma Epic Games mit Fortnite bereits Umsätze im Millionenbereich. Nike entwarf für das Shooter-Spiel Jordan Sneakers, Moschino für die „Sims“ modische Looks und Accessoires und Louis Vuitton kreierte bereits verschiedene Kollektionen für „League of Legends“ (LOL).
Frankfurt Fashion Week digital
Digitale Konzepte spielen auch auf der Frankfurt Fashion Week eine Rolle – auch wenn die Messe physisch nicht stattfinden kann. Mit der Internet-Plattform „FFW Studio“ präsentieren die Veranstalter Messe Frankfurt und Premium Group ein digitales Get-Together auf technischem und inhaltlichem Top-Niveau. Hochwertige Live Streams, Talks und Diskussionen mit internationalen Machern und Macherinnen zu zukunftsrelevanten Themen wie Nachhaltigkeit und Digitalisierung sollen Maßstäbe für die Zukunft der Modeindustrie setzen.
Neue Formate wie „Frankfurt Fashion SDG Summit“ und „The New European Bauhaus – Werkstatt der Zukunft“ versprechen einen „hochkarätigen digitalen Aufschlag“, erklärt Messe Frankfurt Geschäftsführer Detlef Braun. Man sei angetreten, um die FFW zum Taktgeber der Mode- und Textilbranche zu machen und zukunftsrelevante Themen zu setzen: „An diesem Anspruch halten wir fest, auch unter herausfordernden Umständen.“
Die Messen Premium, Seek und Neonyt werden auf Januar 2022 verschoben. Der Fokus soll dann auch wieder auf dem physischen Austausch liegen. Vice President Olaf Schmidt (Textiles & Textile Technologies): „Wir stellen eine Art von digitaler Müdigkeit fest. Dem Wunsch von Unternehmen, Einkäufern, Influencern und Modeprofis nach einem Restart im Sommer wollen wir, soweit es in unserer Macht liegt, nachkommen. Mode ist ja ein sehr sinnliches, sehr haptisches Business. Wenn ich beispielsweise eine neue Jeans präsentiert bekomme, dann will ich wissen wie die Stoffe wirken, wie sie sich anfühlen. Im digitalen Raum kann man diese textile Erfahrung nur schwer möglich machen.“ Die Neonyt on Air habe gezeigt, dass ein Wille da ist, digital zu kooperieren und Geschäfte zu arrangieren, sagt Schwenzfeier: „Ein virtuelles Event kann richtige Modeschauen mit echten Models und Zuschauern aber nicht ersetzen.“
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