Rien ne va plus. Nichts geht mehr. Das Gefühl hatten zunächst viele mittelständische Firmen im Rhein-Main-Gebiet, als Covid-19 das Leben zum Stillstand brachte. Alle schönen Pläne wurden von jetzt auf gleich über den Haufen geworfen. Die Lockdowns nahmen dem Einzelhandel, der Gastronomie, den Fitnessstudios oder der Veranstaltungsbranche die gewohnten Spielfelder. Doch kreative und mutige Unternehmer nutzten die schwierige Phase, um sich neu aufzustellen und Innovatives zu erproben. Das Top Magazin zeigt, wie Fitnessstudiobetreiber Henrik Gockel und Eventdienstleister Nico Ubenauf der Krise trotzen und nach vorn schauen. Sie stehen für die große Schar von Selbstständigen, die in der Pandemie nie aufgegeben haben.
„Ich glaube an die Rückkehr von live“, sagt der Mann, der einmal davon träumte, ein Rockstar zu werden. Doch dazu hat es bei Nico Ubenauf nicht ganz gereicht. Seine Cross Over Band „Relaxte Atmosphäre“, die von der Musik der Red Hot Chili Peppers schwer beeindruckt war, verpasste in den frühen Neunzigerjahren den Durchbruch. „Doch geblieben ist ein Faible für die Inszenierung“, erzählt er im Palais Thurn und Taxis. Seit dem 1. Oktober verantwortet seine Firma „satis&fy“ in dem geschichtsträchtigen Bau mitten in der Frankfurter City die Technik und die messebaulichen Aktivitäten.
Magische Orte
Die ursprünglich ins 18. Jahrhundert zurückgehende Location, in der einst die Herren über Europas Postwege residierten, betreibt „spaces“ in Offenbach. Sie ist eine hundertprozentige Tochter von satis&fy. Ubenauf hat unter dem spaces-Label schon ein kleines Reich exquisiter Orte in seine Regie gebracht: das Curio-Haus in Hamburg an der Rothenbaumchaussee, eine frühere Produktionsstätte für Schiffskräne in Düsseldorf direkt am Rhein und die eindrucksvolle und über 100 Jahre alte Industriehalle Fredenhagen in Offenbach. Der zielstrebige Gamechanger möchte noch mehr interessante Gebäude mit seinen Aktivitäten beleben und fasst in Berlin, Leipzig und im Rhein-Main-Gebiet weitere Objekte ins Auge.
Schon 1993, als der gebürtige Heusenstammer „satis&fy“ gründete, hatte er die Vision, Veranstaltungen an magischen Stätten auszurichten, „um Inhalt mit Technik zu verbinden“. Zunächst kümmerte man sich nur um die Beleuchtung. Beschallung, Bühnenbau und Videogestaltung kamen rasch hinzu. Inzwischen gehört Ubenaufs Truppe in Europa zu den Marktführern in der Livekommunikation. Am Firmensitz in Karben verfügt man über 30.000 Quadratmeter-Fläche mit einem modernen Bürotrakt, Werkstätten und einer großen Lagerhalle. Alles ist auf Zukunft getrimmt.
Auf Zukunft getrimmt
Die Rechnung schien lange spielend aufzugehen. Bis Anfang 2020 war Veranstaltungsspezialist Ubenauf überall dabei. Der Hesse half bei der Durchführung von Konzern-Hauptversammlungen, Messen und großen Sportereignissen. Mit seiner Mannschaft gestaltete er Opernbälle oder führte neue Luxusmobile ein. Die technischen und konzeptionellen Ideen des Hauses gaben Museumsausstellungen den nötigen Spannungsbogen. Und sie sorgten dafür, dass ein Festival wie Rock am Ring mit Zehntausenden von Zuschauern reibungslos funktionierte und Wumms besaß.
Dann machte Sars-CoV-2 mit allem erst mal Schluss. „Mit dem Schock klarzukommen und über Lösungen nachzudenken, war der erste Schritt aus dem Tal heraus“, berichtet Ubenauf rückblickend. Die Gruppe um satis&fy stürzte sich auf die digitalen Formate und verlegte Events von den großen Hallen und baute eigene Aufnahme-Studios. In Karben, Werne/Westfalen, Berlin, Düsseldorf, Hamburg, Frankfurt und Offenbach heißt das aktuelle Motto „Go.Digital“.
Go.Digital
Individuell gestaltbare Plattformen für Live-Streamings und Online-Produktionen wurden ausgebaut. Mit der Kamera eingefangene Produktvorstellungen, Konferenzen, Vorträge, interaktive Videopräsentationen und Webinare ersetzten die Shows und Talks vor großem Publikum. „Das wird jetzt unheimlich gut angenommen“, stellt der 52-jährige Unternehmer fest. „Vor der Pandemie hatten wir bei solchen Konzepten meist nur minimale Einwahlzahlen.“
Weil aber Nico Ubenauf weiter fest an „live“ glaubt, entwickelte er nach Ende des ersten Lockdowns im vorigen Frühjahr einen angepassten Rahmen für echte Meetings in der Corona-Zeit. Er realisierte hybride Veranstaltungen mit einem kleinen Kreis von Besuchern. Sie trafen sich unter Beachtung der Hygienebedingungen an geeigneten Orten. Der Rest saß vor dem Bildschirm.
Live is Live
Parallel demonstrierte er der Branche exemplarisch, wie es auch mit größerem Publikum gehen könnte – mit Distanzgeboten, einem ausgeklügelten Akkreditierungssystem und kontaktfreien Einwegführungen. Für den Juli hatte er dann mit einigen Partnern die Musterveranstaltung „Back To Live II“ geplant. 250 Gäste sollten nach einem nur wenige Stunden zurückliegenden negativen PCR-Test in der Offenbacher Fredenhagen-Halle ohne Mundschutz und Mindestabstand feiern dürfen. Am Ende sagte die Stadt aufgrund der veränderten Verordnungslage doch noch ab.
„Live wird das neue VIP. Die Sehnsucht nach Begegnungen ist bei all meinen Kunden riesengroß“ – Nico Ubenauf
Nico Ubenauf bleibt jedoch standhaft. Nicht einmal, als im Mai 2020 kriminelle Hacker seine Server leer räumten, verlor er den Mut. Wie er vor den Erpressern nicht einknickte, so beugt er sich auch nicht der Seuche. „Nach einer Übergangszeit wird es erneut abgehen“, prognostiziert er unverdrossen.
Sehnsucht nach anderen
„Die Sehnsucht nach Begegnungen ist bei all meinen Kunden riesengroß.“ Digital werde künftig immer mitgedacht. „Es eignet sich hervorragend für Investoren-Roadshows, CEO-Talks, Board-Meetings oder Corporate Broadcasting.“ Aber der direkte Kontakt sei unersetzbar. „Live wird das neue VIP.“ Der Profi, der seit Jahrzehnten die Basis für ein gutes Miteinander in Gesellschaft legt, rechnet mit einer Renaissance des Exklusiven. Im Zweifelsfall werde man sich für das kleinere Programm entscheiden „und nicht für einen Kick-off mit 5000 Außendienstmitarbeitern“.
Der ehemalige Soziologie- und Politologiestudent wittert Chancen, auch weil mit geschicktem Storytelling neue Märkte erobert werden können. „Unser Wunsch war immer, alles aus einer Hand anzubieten, ob in Deutschland, irgendwo in Europa oder in den USA.“ Sein Team mit 700 Mitarbeitern weltweit – mit Standorten unter anderem in New York, Los Angeles, Wien und Berlin – hat er größtenteils zusammengehalten, auch dank staatlicher Unterstützung.
Storytelling
Die Branche verändert sich. Die klassische Trennung zwischen Eventmanagern und technischen Dienstleistern scheint überholt. „Die Kunden erwarten klare Regieanweisungen.“ Trendbeobachter Ubenauf stellt schon Teams für die angepeilten Transformationsprozesse zusammen. „Wir werden tolle Angebote machen.“ Der Hobbykoch, der sich vor Corona gern mit seiner Frau zum Kraftauftanken in sein Haus auf Hawaii zurückgezogen hat, will durchstarten. Noch sucht er aber „händeringend nach Leuten, die ein Gespür für gute Geschichten haben“.
Mutmacher finden sich im Augenblick an vielen Ecken. Modernisierungsdefizite der Wirtschaft bei der Digitalisierung seien aufgeholt worden, diagnostiziert Reinhard Fröhlich von der Industrie- und Handelskammer Frankfurt. „Bei den Betreibern von Rechenzentren explodieren natürlich die Zahlen.“
Lokale Amazons
Sogar Betreiber von alteingesessenen Einzelhandelsgeschäften, die durch die plötzlichen Schließungen in ihrer Existenz akut gefährdet waren, haben auf den Reset-Knopf gedrückt. Diverse regionale Online-Plattformen sind so entstanden, auf denen Verbraucher Produkte von vertrauten Anbietern ordern können. Der IHK-Sprecher nennt sie „unsere lokalen Amazons“.
In Oberursel hat sich ein solcher Zusammenschluss treffend „Heimvorteil“ getauft. Die Geschäftsleute erfahren im Netz große Sympathie. Parallel werden eigene Online-Shops aufgebaut. Modeboutiquen in Frankfurt sind besonders rührig. Sie halten den Kundenkontakt auch mit Postings, Liveshopping-Videos und Videotelefonie.
Selbstoptimierung ist auch für die Kunden von Henrik Gockel ein Thema. Der Gründer und Eigentümer der Kette Prime Time Fitness ist froh, dass die meisten Member seiner Clubs in München, Hamburg und an den sechs Standorten in Frankfurt dabei geblieben sind. „Wir haben alles dafür getan und es hat geklappt.“ Der ausgebildete Wirtschaftswissenschaftler schwärmt in seiner mit modernstem technischen Equipment ausgestatteten Zentrale im Frankfurter Ostend von der entgegengebrachten Solidarität.
Solidarität mit dem Studio
Die Zeitenwende setzte am 18. März 2020 ein. An diesem Tag mussten die Fitness-Clubs erstmals schließen. Um zu reagieren und Auswege zu finden, etablierte man gleich zu Anfang eine Serie von täglichen Conference Calls. Finanzierungsfragen wurden geklärt und Aufgaben an die rund 150 Mitarbeiter verteilt. Man schuf digitale Ersatzangebote und tüftelte an Hygienekonzepten für die angestrebte Wiedereröffnung. Die Kunden erhielten Gutscheine als Ausgleich für das eingeschränkte Angebot.
Auch nach dem zweiten Lockdown wurde Gockels Klientel nicht fahnenflüchtig. „Vorher hatten wir 18.000 Mitglieder an elf Standorten. Jetzt sind es knapp 2.000 weniger“, zieht der Gründer und Inhaber von Prime Time Fitness Bilanz. Das sei nicht viel und überschreite kaum die normalen Abgänge innerhalb eines Jahres. „Es fehlen derzeit nur die Neueintritte.“
Persönliche Atmosphäre
Gockel ist stolz auf die bewiesene Treue. Auf eine persönliche Atmosphäre habe er seit dem Start 2010 starken Wert gelegt. „Unser Pfund sind die top qualifizierten Mitarbeiter. Bei uns ist nichts von der Stange, sondern alles selbst kreiert.“ Dass sich sein Unternehmen als Fitness-Manufaktur und nicht als „Fitnesskette“ verstehe, zahle sich nun aus. „Sogar auf Gutscheine haben viele verzichtet.“ Der gebürtige Mainzer, der aus einer Arztfamilie stammt, nennt diese Spender „Heroes“.
„Auf einmal stellen die Kunden fest, dass sie prima von Zuhause mit uns Sport treiben können. Diese Option wird selbstverständlich bleiben.“
Michael Remlinger
Die Mitglieder bekommen auch eine ganze Menge zurück. Ein digitales Workout ist als Einzelstunde mit Coach, aber auch in Gruppen möglich. Bis zu 15 Personen werden dann unter Anleitung von zwei Trainern auf riesigen Bildschirmen zugeschaltet. Damit haben die Trainer die gleichen Korrekturmöglichkeiten, als wäre man im selben Raum.
„Auf einmal stellen die Kunden fest, dass sie prima von Zuhause mit uns Sport treiben können“, meint Michael Remlinger, der Franchise- und Marketingmanager von Prime Time Fitness. Das Trainingsfeeling und das direkte Feedback funktionieren auch Zuhause. „Diese Option wird selbstverständlich bleiben.“ Morgens kurz vom Bett auf die Matte, das sei verlockend. Und auch abends nach dem Büro entfalle dann schon mal der Umweg über das Studio.
Weg mit der Lethargie
Viel werde Zuhause nicht gebraucht, erläutert der studierte Sportökonom Remlinger. „Hanteln, Yogamatte, ein Stuhl oder zwei, drei andere Alltagsgegenstände reichen vollkommen aus.“ Die Gesundheit müsse nicht leiden. „Kein Lockdown für deinen Körper“ lautete das Motto. Dass tut auch der Seele gut. „Sogar persönliches Einzeltraining an der frischen Luft haben wir in Zelten realisiert“, ergänzt Gockel. Die Behörden waren zwar skeptisch, aber die Rechtslage gab es her.
„Ich bin und bleibe optimistisch“ – Henrik Gockel
Auch wenn die Freude spürbar ist, in den eigenen vier Wänden der Lethargie zu entrinnen, so möchten die Clubmitglieder doch so schnell wie möglich wieder gemeinsam trainieren. „Liebe Primer, danke für Eure Mühe und die Online-Angebote“, schrieb eine Teilnehmerin erleichtert. „Ich bin weiterhin sportlich aktiv. Trotzdem vermisse ich Euch!“
Auftrieb und Antrieb
Der Bewegungstrieb ist nicht totzukriegen. Henrik Gockel zitiert eine repräsentative Umfrage unter Besuchern von Sportstudios. Sie habe ergeben, dass 80 Prozent „gleich am Ball sein wollen, wenn es wieder in den Clubs los geht“. Er strahlt und verabschiedet sich von Faust zu Faust. „Ich bin und bleibe optimistisch.“
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