Seit einigen Jahren sind Achtsamkeitskurse mit Meditationsübungen und bewusstem Atmen auch in der Unternehmenswelt angekommen. Immer mehr Führungskräfte besuchen Workshops, um den Stress besser zu bewältigen. Doch die Kurse können noch mehr bewirken. Von Sabine Börchers
Anfang des Jahres, beim Weltwirtschaftsforum in Davos, saßen Banker, Ökonomen und Manager am frühen Morgen nicht nur in Vorträgen über die globale Finanzwirtschaft, sondern auf Isomatten beim Meditationsprofi, um gemeinsam achtsam zu atmen. Selbst die norwegische Prinzessin Mette-Marit und ein amerikanischer Hedgefondsmanager nahmen an einem Seminar über achtsamkeitsbasierte Führungsmethoden teil, absolvierten Atemübungen und eine Drei-Minuten-Meditation.
Andere suchten die Stille etwas abseits des Forums. „Neben unserem Büro in Davos ist eine Kirche mit einer lebensgroßen Jesus-Figur. Ich habe viele Besucher gesehen, die zwischendurch dort hineingingen, um zur Ruhe zu kommen und neue Energie zu tanken. Auch das ist eine Art von Meditation“, erzählt Susanne Dröll-Bülter, Frankfurter Karriere- und Lifecoach, die ein Logistikunternehmen während des Weltwirtschaftsforums betreut.
Praktiken wie Meditation und Atemübungen, die man früher eher mit Hippies oder exaltierten Sinnsuchern in Verbindung gebracht hätte, sind offensichtlich nicht nur in der Mitte der Gesellschaft, sondern auch in den Führungsetagen der Unternehmen angekommen. Hochrangige Manager sprechen heute öffentlich darüber, dass sie in klösterlicher Stille oder mit Yoga Kraft tanken.
Als erstmals in einer deutschen Großbank ein Meditationskurs für die Mitarbeiter angeboten werden sollte, musste das Anliegen noch dem Vorstandsvorsitzenden vorgelegt werden. Heute meditiert vermutlich auch er. Der Begriff „Achtsamkeit“ ist in der Geschäftswelt in aller Munde. Das Ziel: Vor allem Führungskräfte sollen sich im hektischen Tagesgeschäft besser fokussieren und sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Gute Kommunikation
„Im Rahmen der Digitalisierung findet eine enorme Beschleunigung und Informationsverdichtung statt. Um mit dem daraus entstehenden Stress und der psychischen Belastung besser umzugehen, wird in Unternehmen der Fokus immer häufiger auf das Thema Achtsamkeit gelegt“, sagt Jan Eßwein, Achtsamkeits-Trainer, Redner und meistgelesener deutscher Autor zum Thema.
„Jeder dritte Deutsche gibt an, dass er unter Konzentrationsstörungen durch digitale Medien leidet.“ – Jan Eßwein
Er bestätigt, dass rund 20 Prozent der Anfragen für seine Seminare von Managern kämen, die das Achtsamkeitstraining für sich entdeckt hätten und ihre Mitarbeiter daran teilhaben lassen wollten. „Jeder dritte Deutsche gibt an, dass er unter Konzentrationsstörungen durch digitale Medien leidet“, stellt Eßwein fest. Es gehe deshalb darum, durch einen intelligenten und bewussten Umgang mit diesen Medien wieder effektiv und fokussiert zu arbeiten, „und so in den Flow zu kommen“, wie er es nennt.
„Wir leben in einer Wissens- und Informationsgesellschaft. Das Wichtigste, was wir haben, ist unsere Kreativität. Um kreativ zu sein, um tiefe geistige Arbeit zu leisten, brauchen wir die Fähigkeit, uns voll und ganz auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Das geht im Schnell-Schnell des Alltags häufig verloren.“ Das gelte natürlich besonders für Führungskräfte, die viele Vorhaben und Themen gleichzeitig jonglieren müssen.
Der Vorteil für die Unternehmen lässt sich durchaus quantifizieren: Größere Achtsamkeit führe zu einer Reduktion von Fehlzeiten und Krankheitskosten. Denn durch die Fähigkeit, besser mit Stress umzugehen, wird die psychische Gesundheit von Führungskräften und Mitarbeitern gefördert – damit wirbt Eßwein für seine Vorträge und Trainings. Hinzu komme, dass Teams und Mitarbeiter kreativer und produktiver seien, da sie mit ihrer Ressource Aufmerksamkeit besser umgehen könnten.
Es gebe aber einen weiteren wichtigen Aspekt für die Unternehmen, ihre Mitarbeiter in Achtsamkeit zu schulen, sagt Eßwein: die Kommunikation. „Je mehr sich neue Organisationsformen durchsetzen, je mehr projektbezogen gearbeitet wird, desto wichtiger ist wertschätzende und punktgenaue Kommunikation im Team.“ Auch hier sei ein achtsamer Umgang miteinander zielführend.
Das gilt besonders in Zeiten von Fachkräftemangel. Denn erst eine attraktivere Unternehmenskultur ermöglicht es, die Fachkräfte zu binden oder neue zu finden. Auch der Generationswechsel, der sich im Arbeitsleben gerade vollzieht, spiele dabei eine Rolle, stellt Susanne Dröll-Bülter fest, die selbst junge Akademiker begleitet, um für sie das passende Unternehmen zu finden. „Viele junge Leute haben ein anderes Verhältnis zu sich selbst, ihnen geht es immer stärker um die Work-Life-Balance, sie achten genau darauf, wie ein Unternehmen aufgestellt ist.“ Deshalb seien Methoden des Achtsamkeits-Trainings auch keine Modeerscheinung mehr, glaubt sie.
Wahrnehmen ohne zu bewerten
Das sieht Jan Eßwein ähnlich. Er verwendet die Methode MBSR, eine Abkürzung von „Mindfulness-Based Stress Reduction“. Sie „ist weltweit eine der am besten erforschten Stressbewältigungsmethoden. Allein in den vergangenen Jahren wurden dazu um die 1.000 Studien gemacht.“ Hirnforschung, Neurowissenschaften und Psychologie erforschen verstärkt die Wirkung von Achtsamkeit und Meditation. Sie stellen fest, dass diese nicht nur aufs vegetative Nervensystem wirken, also eine Entspannungsreaktion auslösen.
Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich unser Gehirn verändert, wenn wir mit unserem Bewusstsein wertfrei im aktuellen Moment verharren, also achtsam sind. Wissenschaftler der University of British Columbia und der Technischen Universität Chemnitz fassten Daten aus mehr als 20 Studien zusammen und fanden heraus, dass Meditation Veränderungen in mindestens acht verschiedenen Hirnregionen bewirkt, darunter in einem Areal, das für geistige Flexibilität sorgt, unser Verhalten sinnvoll steuert und dabei unangemessene Reflexreaktionen wie Impulsivität und Aggression unterdrückt.
Jan Eßwein arbeitet mit einem für Business-Ansprüche weiterentwickelten MBSR-Trainingsprogramm. Es wurde Ende der 1970er-Jahre von dem US-amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickelt, der dafür Übungen aus dem Hatha Yoga und den buddhistischen Vipassana- und Zen-Meditationen kombiniert hat. Ziel ist es, einen klaren Bewusstseinszustand zu erreichen, der es erlaubt, jede innere und äußere Erfahrung im gegenwärtigen Moment vorurteilsfrei zu registrieren und zuzulassen.
Buch-Tipp
Susanne Dröll-Bülter führt in ihren Coachings vor einer geführten Meditation mit den Teilnehmern häufig einen sogenannten Bodyscan durch, eine Übung, bei der man schrittweise den gesamten Körper wahrnimmt, von den Zehen bis zur Nase. Viele Menschen könnten dabei tief entspannen und spürten ihren Körper intensiver. „Es geht darum, sich selbst wahrzunehmen, zu sehen, wie es einem geht, ohne den Zustand zu bewerten. Ziel ist es, im Hier und Jetzt anzukommen.“ Diese Erkenntnis kann zudem der erste Schritt zu einem besseren Verhältnis zu anderen sein: „Wenn ich achtsam mit mir umgehe, kann ich auch achtsam und wertschätzend mit meinen Mitarbeitern umgehen.“
Neben Meditationsübungen und Körperübungen zu Haltung, Dehnung und vor allem zur Atmung verwenden beide Coaches auch solche, die sich mit der Achtsamkeit in der Kommunikation beschäftigen. „Wir üben zum Beispiel, einer Person eineinhalb Minuten aktiv zuzuhören, ohne nachzufragen. Viele stellen dabei fest, wie schwierig das ist“, sagt Jan Eßwein. Er nutze oft einen „Redestab“, der signalisiere, wer gerade das Wort hat. Am Ende seiner Workshops höre er oft von Teams und Abteilungen, dass die Arbeit ruhiger laufe und die Zusammenarbeit angenehmer und effektiver sei.
Feelgood-Manager
Die Kunden des Coaches, Unternehmers und Buchautors aus der Nähe von München kommen verstärkt aus dem IT-Umfeld, auch aus Frankfurt. „Ich erlebe den Mittelstand als sehr engagiert auf dem Gebiet. Unter meinen Kunden sind viele inhabergeführte Unternehmen und Agenturen, die die Trends erkennen und ein hohes Verantwortungsgefühl für die Gesundheit der Mitarbeiter haben.“ Das kann Susanne Dröll-Bülter bestätigen, die auch immer wieder Veränderungsprozesse bei Nachfolge-Regelungen begleitet und dabei ebenfalls Achtsamkeitsübungen in ihre Trainings einbaut. Sie wird als ganzheitlicher Coach zudem viel von Banken und aus der Hotellerie angefragt.
Vor allem Start-ups und junge Firmen zeigten sich besonders interessiert an ganzheitlichen Ansätzen im Unternehmen, sagt sie. „Sie haben heute sogar schon sogenannte ,Feelgood-Manager‘. Diese kümmern sich um alles, von der Ernährung, über die Ergonomie des Arbeitsplatzes bis hin zu Feedbackgesprächen und Konfliktberatung.“
Bei akuten Konflikten sieht Susanne Dröll-Bülter in den Achtsamkeitsmethoden durchaus ebenfalls Ansätze, die den Betroffenen helfen können. „Mit geführter Meditation kann man zum Beispiel erreichen, dass jemand seine Probleme mit einem größeren Abstand, quasi von außen betrachtet“, sagt sie, frei nach dem Motto: „Raus aus dem täglichen Drama“. Die Distanz zur eigenen Rolle erleichtere auch die Kommunikation. Sie führe zu einem bewussteren, wertschätzenderen Umgang.
Nicht alle Mitarbeiter erreiche man mit Achtsamkeitstraining, stellt Jan Eßwein fest. „Man kann es nicht verordnen, man muss den Menschen klar den Nutzen kommunizieren“, ergänzt Susanne Dröll-Bülter. Sie geht in ihren Einzelcoachings über das Achtsamkeitstraining weit hinaus. Sie ergründet mit ihrem Gegenüber auch dessen Lebensmotive, den Grund, der ihn antreibt, morgens aufzustehen. „Hat jemand ,Freiheit‘ als Lebensmotiv, braucht er auch im Beruf mehr Entscheidungsfreiheit; ist es eher ,Neugier‘, wird er eingehen, wenn er nichts Neues lernen darf“, nennt sie ein Beispiel. Wer sich darüber klar wird, dem hilft vielleicht eine kleine Justierung, vielleicht aber auch nur ein Jobwechsel. So wie bei dem Marketingleiter eines großen Textilunternehmens, den Susanne Dröll-Bülter betreute. „Er ist heute Outdoor-Coach.“
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