Sie checken unsere Aktien, buchen uns den nächsten Arzttermin und gewähren uns Kredite: Super-Apps sind wie ein digitales Schweizer Taschenmesser. In Asien sind die Online-Applikationen, die mehrere Dienstleistungen in einer einzigen App vereinen, bereits alltägliche Begleiter. Ob sich der Trend auch in Deutschland durchsetzt? Top Magazin hat recherchiert.
Schätzungsweise 108,5 Milliarden Apps wurden im vergangenen Jahr aus dem Google Play Store heruntergeladen. Über 34 Milliarden aus dem des Konkurrenten Apple. Die Anwendungsgebiete sind schier unendlich. Apps zum Essen bestellen, um sich ein Busticket zu buchen, einen E-Roller zu mieten oder eine Überweisung zu tätigen. Selbst, um zu erfahren, ob es draußen bereits dunkel ist, genügt ein Blick aufs Smartphone – anstatt einfach aus dem Fenster. All diese Programme sollen uns mit nur einem Klick das Leben erleichtern – doch es gibt einen Haken: Jede einzelne App kostet Speicherplatz, zieht Strom und verbraucht das mobile Datenvolumen. Auf dem asiatischen Markt hat man dafür eine Lösung gefunden: sogenannte Super-Apps. Das sind eigene Betriebssysteme, die überfüllte Home-Bildschirme vermeiden und auf einer einzigen Plattform möglich machen, was sonst nur in zehn unterschiedlichen Apps möglich wäre.
Vom Chat-Dienst zum Supertalent
Mit über 1,2 Milliarden aktiven Nutzern pro Monat ist WeChat eine der bekanntesten. Herausgegeben wird sie von Tencent, dem größten Internet-Unternehmen der Volksrepublik China und einem der wertvollsten Unternehmen der Welt. Ursprünglich gedacht als reiner Chat-Dienst für Smartphones, ist die 2011 gestartete App mittlerweile um zahlreiche Zusatzservices und sogar einen eigenen App-Store erweitert worden. Innerhalb der App lässt sich so selbst wählen, welche Dienste man nutzen möchte. So können Nutzer neben Audionachrichten und Videotelefonaten auch Restaurant- und Stromrechnungen bezahlen, Sticker kaufen, Jobs oder Leute in der Nähe suchen, Spiele spielen, sich ein Visum für die USA beantragen und eigene Mobile-Stores betreiben. Transaktionen werden per QR-Code getätigt: Einfach Code scannen, Betrag bestätigen und schon ist der Einkauf bezahlt. Das ganze Smartphone-Universum in nur einer App.
Tipp
- Hosp, Julian (Author)
Betteln mit QR-Code
Generell wird in China fast nur bargeldlos bezahlt. Selbst Bettler haben die digitalen Zahlungsmittel für sich entdeckt: Während hierzulande noch ein beschriebenes Stück Karton um die monetäre (Bargeld-)Gunst von Passanten bittet, ist man im Reich der Mitte bereits mit einem App-generierten QR-Code ausgestattet. Vor chinesischen U-Bahn-Stationen wird dann per Smartphone gespendet, zum Beispiel per Alipay.
Das chinesische Onlinebezahlsystem der Alibaba Group ist mit 530 Millionen Nutzern weltweit die größte Payment- und Lifestyle-Plattform, die durch 120.000 Mini-Programme erweitert werden kann. Gründer Jack Ma beschrieb 2004 die Motivation zur Gründung der App wie folgt: „Das Problem für Online-Zahlungen war bisher, dass es in China keinen echten Standard für Online-Zahlungen gab. Das Problem liegt darin, dass jede der Staatsbanken ihren eigenen Standard schaffen will und deshalb nicht bereit ist, zu kooperieren.“
Mit Alipay wurde ein System erschaffen, das funktioniert und das Vertrauen weckt: Im Jahr 2013 betrug das mobile Transaktionsvolumen der App fast 150 Milliarden US-Dollar. Der hierzulande verbreitete Dienst PayPal wies für den gleichen Zeitraum nur 27 Milliarden aus und verlor damit seine Stellung als größte Onlinebezahlplattform. Im gleichen Jahr gab es in Peking 5.000 Taxis, welche die neuartige Bezahlmethode per App akzeptierten. Seit 2019 steht fest, dass Alipay als E-Geld-Institut in der EU anerkannt ist und im Juni dieses Jahres mit dem Verkauf von NFTs startete.
Super-Apps Potenzial in Asien
Neben WeChat und Alipay haben sich in Asien noch weitere Plattformen zur Super-App durchgesetzt. In Singapur ist es Grab, in Korea die Kakao App, in Indien Paytm und in Indonesien die On-Demand-Multi-Service-Plattform Gojek: Einst als Motortaxi-Unternehmen mit 20 Fahrern gegründet, kann man heute mit Go-Massage eine Massage buchen, mit Go-Send Pakete verschicken, mit Go-News Nachrichten verfolgen, mit Go-Clean einen professionellen Hausreinigungsdienst einstellen und vieles mehr. Ganze 23 Dienstleistungen werden in der App angeboten, bereit den Alltag ihrer Nutzer zu organisieren.
Tipp
Kollektives Wohlergehen vs. individuelle Freiheit
Auch auf anderen Kontinenten sind Super-Apps angesagt: In Kolumbien gehört Rappi dazu und in Afrika Ting. Nur im Westen ist der Trend noch nicht angekommen. Das liege an der unterschiedlichen Werteorientierung, die insbesondere in Ostasien herrsche, erklärt uns der Hessische Beauftragte für Datenschutz und Information Prof. Dr. Alexander Roßnagel: „In Ländern wie China steht nicht die individuelle Freiheit, sondern das kollektive Wohlergehen im Vordergrund. Bei uns in Deutschland hat man ein viel stärkeres Empfinden für die Freiheitseinschränkung, die durch die irrsinnige Machtsteigerung solcher Super-Apps entsteht.“
Wer unterschiedliche Apps herunterlade, könne frei darüber entscheiden, welchem Anbieter wie viele persönliche Informationen preisgegeben werden. „Lieferando weiß, welche Pizza Sie mögen und wie viel Pasta Sie bestellen. Doch die App kennt nicht Ihre Schuhgröße oder weiß, wo Sie Urlaub machen. Aber die Macher hinter Super-Apps nehmen jeden digitalen Fußabdruck wahr. All die Gewohnheiten, Präferenzen, Charakterzüge und Schwächen, die eine Person zu der machen, die sie ist. Und dieses Wissen kann von Fremden ausgenutzt werden. Das ist das Gegenteil von informationeller Selbstbestimmung, die wir in Deutschland nicht missen möchten. Jedenfalls so lange, bis der Faktor Bequemlichkeit den Faktor Freiheitsschutz überwiegt.“
Kritik an Super-Apps
Seit Jahren mehrt sich die Kritik an Super-Apps wie WeChat. Es wird vermutet, dass die App proaktiv zum Ausspähen der Nutzer und zur chinesischen Internetzensur missbraucht wird. Dazu sollen auch als sensitiv erachtete Bilder aus den Nachrichten herausgefiltert werden. Im September 2017 schrieb der Dienst in seiner Datenschutzerklärung fest, nahezu alle Informationen der Benutzer an die chinesischen Behörden weitergeben zu dürfen.
Tipp
So etwas wäre in Deutschland undenkbar, stellt Datenschützer Roßnagel fest. „Der deutsche Staat unterliegt beim Sammeln und Verwenden von Daten einer rechtsstaatlichen Sicherung.“ Private Anbieter von Super-Apps kennen solche Mechanismen nicht. Schon gar nicht, wenn es sich um Unternehmen aus dem Ausland handelt. Sie sammeln, was immer sie möchten, und können über die Daten frei verfügen. „So ein Über-App-Anbieter erhält Informationen, die kein anderer auf dem Markt über potenzielle Kunden hat. Das führt auch zu Wettbewerbsverzerrungen. Die Frage der Datensicherheit ist zwar eine wichtige, aber in meinen Augen nicht so wichtig wie die nach der irrsinnigen Steigerung von Informationsmacht.“
„Bei uns in Deutschland hat man ein viel stärkeres Empfinden für die Freiheitseinschränkung, die durch die irrsinnige Machtsteigerung solcher Super-Apps entsteht.“ – Prof. Dr. Alexander Roßnagel
Mit Alipay zu Aldi Süd
In Deutschland mangelt es an Vertrauen in Super-Apps. Aber auch an ihrer Übersichtlichkeit und Funktionalität. Alipay wird beispielsweise bereits von einigen Einzelhändlern in Europa akzeptiert. Zum Beispiel Aldi Süd, Rossmann, Breuninger, Galeria Kaufhof, bei der Drogeriemarktkette dm oder am Frankfurter Flughafen. Allerdings war die Nutzung der chinesischen App bis vor wenigen Monaten ausschließlich für diejenigen möglich, die auch über ein chinesisches Bankkonto verfügen. Für die Akzeptanz der App bei Usern in Europa oder Deutschland sicherlich keine optimale Voraussetzung. Seit Neustem können nicht-chinesische Nutzer ihr Alipay-Konto auch mit einer internationalen Bankkarte verknüpfen. Das Angebot richtet sich in erster Linie aber an ausländische Touristen. Die einzige Möglichkeit für einen deutschen Kunden, Alipay auf Deutsch zu nutzen, geht über den Onlineshop Alibaba und das funktioniert nur mit einem AliExpress-Konto. Aber Obacht: Wer bei der Nutzung von Alipay Pay Visa oder Mastercard verwendet, für den fallen unter bestimmten Bedingungen auch noch Provisionen an. Einfach geht anders.
Super-Apps der Zukunft
Dennoch stellt man sich im Westen auch auf eine Zukunft mit den digitalen Alleskönnern ein: Google und Facebook arbeiten mit Hochdruck an den nächsten Super-Apps. Tik Tok öffnete erst kürzlich seine Social Media-Plattform für Mini-Apps von Drittanbietern, unter anderem von Wikipedia, der Nachrichten- und Unterhaltungsseite BuzzFeed oder dem Quiz-Anbieter Quizlet.
Das prominenteste Beispiel ist Uber. In Deutschland ist das US-amerikanische Dienstleistungsunternehmen für Taxifahrten und Essenslieferungen (Uber Eats) auf Abruf bekannt. Außerdem kann man sich über die App ein E-Auto, E-Roller oder E-Bike (Uber Green) mieten.
In anderen Ländern ist das Unternehmen seinem Ziel, eine Super-App wie Gojek zu werden, schon einen großen Schritt näher: In Mexiko bietet das Unternehmen Bankkarten an, in Chicago vermittelt es Menschen für zeitlich begrenzte Schichtarbeit, in San Diego testet es die Lebensmittelüberlieferung per Drohne. In Philadelphia hat das Unternehmen 2015 sogar einen Kuschelservice eingeführt (Uber Kittens): Auf Knopfdruck kann man sich für 30 Dollar 15 Minuten zum Spielen mit süßen Kätzchen verabreden. Mit einem spektakulären Transportangebot fernab der Straße überraschte Uber 2018 in Süddeutschland: 3.100 Euro zahlt man für ein One-Way-Ticket per Uber Heli direkt von München nach St. Johann in Tirol. Rund eine Stunde dauert der Flug.
Vorreiter aus Hessen
Um den Vorreiter-Platz als Super-App in Hessen bemüht sich Fußball-Bundesligist Eintracht Frankfurt mit seiner Tochtergesellschaft Eintracht Tech. „Nutzer der ‚mainaqila‘-App können sich vollumfänglich über Eintracht Frankfurt informieren. Völlig egal, ob man Videobeiträge über das Geschehen auf dem Platz sehen oder Artikel über die Tennis-Abteilung der Eintracht lesen möchte“, so Geschäftsführer Timm Jäger. Die App kann aber wesentlich mehr, als nur über den Sport zu informieren: Durch eine Zusammenarbeit mit Hessens größtem Radiosender erhält der Nutzer auch Nachrichten aus der gesamten Region zu lesen. Zudem können Karten für Spiele oder Konzerte direkt gekauft und digital abgelegt werden. Mit dem Verbundpartner RMV lassen sich Tickets für die Fahrt zum Eintracht-Spiel ganz einfach über die App generieren. Jäger: „Die App selbst wird nie fertig sein. Wir entwickeln sie ständig weiter und optimieren so den Service für die Nutzer.“
PayPal wirbelt Börse auf
„Es wird wahrscheinlich sechs bis zehn Super-Apps geben, die sich weiterentwickeln“, sagte Paypal-CEO Dan Schulman im Interview mit dem „Time Magazine“. „Sie werden in Zukunft keine 50 Apps auf Ihrem Telefon haben, weil Sie sich nicht 50 Benutzernamen und Passwörter merken können; Sie wollen nicht Ihre Finanzdaten in jede einzelne App eingeben“. Super-Apps würden im Grunde andere Apps vermitteln, sodass man sich nur einmal anmeldet, ein gemeinsames Passwort hat. „Das macht es für den Verbraucher einfacher und bequemer.“
PayPal selbst will schon seit Langem mehr als nur eine gewöhnliche App zum Bezahlen sein. Wie der Markt auf die Veränderung zur Super-App reagiert, zeigte sich, als das US-Unternehmen im Oktober Interesse an der Übernahme von Pinterest bekundete. Daraufhin schnellten die Aktien von PayPal im vorbörslichen Handel an der Nasdaq-Börse um über sechs Prozent in die Höhe, während die Aktien von Pinterest um über zwölf Prozent fielen. In einem Update auf seiner Website bezog das Unternehmen aber kurz darauf Stellung und erklärte, dass „es zum jetzigen Zeitpunkt keine Übernahme von Pinterest anstrebt“.
Erobern Super-Apps den Westen?
Während der Pandemie hat sich noch einmal mehr gezeigt, wie praktisch Apps auf dem Smartphone sind: Wer Angst vor Ansteckung hatte, vermied, in den Supermarkt zu gehen, und bestellte über Rewe oder Gorillas seine Lebensmittel nach Hause. Wer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr, konnte sein Ticket vor Fahrtantritt bequem und ohne Direktkontakt über die RMV-App buchen. Mithilfe von Apple Pay werden Bankkarten und Bargeld ersetzt. Generell sind in Deutschland Bezahl-Apps wie PayPal, Amazon Pay oder Google Pay im Trend und werden vor allem von Jüngeren gerne genutzt.
Es ist davon auszugehen, dass das Handy ein immer wichtigerer Begleiter unseres Alltags wird – rund 3,6 Milliarden Smartphone-Nutzer gab es 2020 laut Statista weltweit, Tendenz steigend. Entscheidend ist aber, dass Datenschutz und Privatsphäre hierzulande einen hohen Stellenwert besitzen. Super-Apps werden es schwer haben, sich durchzusetzen, solange sie gegenüber bestehenden, einfach bedienbaren Apps – denen Nutzer die Treue halten – keinen Mehrwert bieten. Gegen Speicherplatznot werden Smartphones mit mehr Speicherkapazität entwickelt, Mobilfunkanbieter bieten günstige Verträge inklusive ausreichenden mobilen Datenvolumens, Powerbanks laden leere Akkus von überall unterwegs auf. Dass ein Social-Media-Hype Apps pushen kann, hat „Clubhouse“ eindrucksvoll bewiesen – allerdings auch, wie schnell ein Mega-Hype vorbei ist.
Tipps
- Hosp, Julian (Author)
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