Warum gibt es überhaupt Sterne, Hauben und sonstige Noten für Köche? Vermutlich entspringt dies dem Wunsch des Menschen, alles in Kategorien zu pressen, weil er seiner eigenen Wahrnehmung nicht traut. Im Bereich Gastronomie wollen wir auch mal wirtschaftliche Interessen nicht ausschließen, denn Kochkunst in einen sportlichen Wettkampf zu zwingen, hat durchaus finanzielle Vorteile. Doch wer legt die Regeln fest und wer verdient wirklich?
Ob als alte Dame oder forscher Cowboy: Unvergessen sind die Verkleidungen des Restaurantkritikers Charles Duchemin, der so versuchte, die Küchenchefs zu täuschen und unerkannt zu bleiben. Louis de Funès und Regisseur Claude Zidi legten bereits 1976 den Finger in eine Wunde, die bis heute brandaktuell ist: Der Mythos des Gourmetkritikers, der Köchen zu Reichtum und Berühmtheit verhelfen, sie aber auch in den Ruin treiben kann.
Der Mythos wird entzaubert
In den angesagtesten und besten Restaurants der Stadt speisen und dafür auch noch bezahlt werden, so stellt sich der Laie den Job des Kritikers vor. Ständig werde man eingeladen und der Sternekoch rolle den roten Teppich aus, während man selbst hochherrschaftlich bis herablassend über die Leistung des Künstlers urteilt. Doch die Wahrheit sieht anders aus. 12 Restaurants mit je 3 Gängen in 7 Tagen auf dem Arbeitsplan sind für die Berufstester normal und nicht immer das pure Vergnügen.
Und besonders beliebt sind die schreibenden Esser auch nicht immer. Schon Paul Bocuse sagte: „Sie sind wie Eunuchen – wissen alles, können aber nichts!“. Auch wenn sich der Gastrokritiker stets unter falschem Namen anmeldet, ist er oft doch persönlich bekannt beim Gastronomen. Aber nicht immer beim Service-Personal…
„Außerdem ist es ohnehin zu spät, wenn ich da bin. Dann kann der Koch auch keine besseren Zutaten mehr einkaufen“, erzählt Bastian Fiebig, Chefredakteur von „Frankfurt Geht Aus!“. Die Gegenseite sieht es ähnlich: „Zu Anfangszeiten hatten wir alle Listen mit den Testern in der Küche hängen“, erinnert sich 3-Sterne-Koch Juan Amador. „Aber das ist völlig sinnlos. Soll ich dem Kritiker die doppelte Portion Kaviar auf sein Essen geben? Damit mache ich meine ausbalancierte Komposition kaputt!“
In geheimer Mission
André Großfeld berichtet aus früheren Betrieben vom kompletten Küchenstopp, sobald ein bekannter Kritiker im Gastraum erspäht wurde. „Da wurde dann nur noch der eine Tisch bekocht“. Auch heute gibt es schon noch Möglichkeiten, besondere Gäste zu bevorzugen: „Klar kann man das schöne Mittelstück von Fisch oder Fleisch für einen Stammgast oder den Kritiker verwenden“.
Identifiziert werden auch bei ihm die Mitarbeiter der Guides schnell: „Ein Gast alleine, der 4 Gänge bestellt und nie Brot isst – da weißte sofort Bescheid.“ Was der Koch allerdings nicht immer weiß, ist, von wem der Tester gerade beauftragt wurde. Mancher ihm bekannte Kritiker ist an einem Tag rein privat im Restaurant, an einem anderen Tag für einen der wirklich großen Guides aktiv und nicht für die Zeitung, für die er sonst arbeitet.
Eine negative Beurteilung kann eine Existenz vernichten oder zumindest ein Bauernopfer fordern. Und da es keine Ausbildung zum Kritiker gibt, dank Internet aber viele Verbreitungsmöglichkeiten für Schmähtexte, fühlt sich heute jeder, der essen kann, oft auch berufen, die Welt darüber zu informieren, wie es ihm dabei ergangen ist.
Diverse Internetplattformen bieten den passenden Rahmen dafür. Aber können ja/nein Fragen wie „Sah das Essen gut aus?“ oder „War der Koch kreativ“ den nächsten Gast wirklich ausreichend informieren? Der renommierte Guide Michelin schockte Anfang des Jahres die Gastronomen mit der Meldung, dass sich künftig jedes Restaurant für 69 Euro einen Platz auf der neuen Restaurant-Seite buchen kann und jeder Hobby-Schreiber dort seine Meinung kundtun darf.
„Aus Angst vor dem Tod begeht der Michelin Selbstmord“, fasst der Restaurantkritiker Ludwig Fienhold es treffend zusammen. Der Michelin degradiere sich zum bloßen Blog und biedere sich an den Massengeschmack an. Damit gibt der Guide Rouge das einzige aus der Hand, für das er bislang zu stehen glaubte: den ganz persönlichen unabhängigen unbestechlichen Geschmack.
Der Halbgott hält Hof
Ist nun der hochdekorierte Koch der Künstler oder ist der Kritiker der Halbgott am Laptop, der über alles entscheidet? „Wir sind keine Künstler, sondern Hochleistungssportler“, beurteilt Juan Amador seine Zunft. „Was abends auf den Tisch kommt, ist ohnehin nur eine Reproduktion.“
Natürlich ist gerade der Stern als Auszeichnung ein Garant für deutlichen Mehrumsatz, aber viele Köche wollen gar keinen zweiten oder dritten Stern. „Damit bekäme ich eine völlig andere Klientel, die ich gar nicht unbedingt haben will. Das zieht auch die ewigen Nörgler an“, sagt André Großfeld, der gar keinen großen Wert darauf legt, als Sternekoch bezeichnet zu werden.
„Es ist natürlich eine große Ehre und Anerkennung unserer Arbeit, ohne Frage! Für mein Ego oder meine Gäste brauche ich den Stern aber nicht. Die Mitarbeiter brauchen es, haben es gerne im Zeugnis stehen.“ Manche Köche haben ihren Stern sogar freiwillig zurück gegeben. Franz Keller (Hattenheim) sorgte Anfang der 90er Jahre für einigen Wirbel, als er mit einem Brief an den Michelin Deutschland aus der „Sternmanege“ ausgestiegen war. Rechtzeitig zur Eröffnung der Adler Wirtschaft hatte er beim Michelin angekündigt, dass er in Zukunft ganz ohne Sterne arbeiten möchte – um frei genug zu sein zu kochen, was und wie er wollte. Besonders tragisch ist, dass ausgerechnet sein Freund Bernard Loiseau sich 2003 das Leben nahm, nachdem ihn der Gault Millau von 19 auf 17 Punkte zurückstufte (der Guide Michelin aber 3 Sterne bestätigte).
Erfahrung und Geschmackstalent
Fest steht: Der Hobbykritiker ist bei den Berufsschreibern und Chefköchen gleichermaßen unbeliebt. Als „Farblose Wohlstandschnösel, großmäulige Pseudogourmets und arme Würstchen, denen es um Selbstdarstellung und Aufwertung der eignen Person geht“ bezeichnet Gastrokritiker Ludwig Fienhold sie.
Doch was muss der Experte können? „Man frisst sich nach oben“, erklärt „Frankfurt Geht Aus!“-Chefredakteur Bastian Fiebig. Nur durch jahrelange Erfahrung und die Fähigkeit, eine Bewertung treffen und in Worten ausdrücken zu können, habe man eine gute Chance. Mitteilungsbedürfnis helfe auch.
Hier herrscht Einigkeit, auch 2-Sterne-Koch Hans Horberth nennt Genussfreude, fachliche Kompetenz, Seriosität und die Fähigkeit, das Zeitgemäße im Blick zu behalten als wichtigste Kriterien für gute Tester. Eine gewisse Regelmäßigkeit der Besuche, um die Entwicklungen in der Küche auch wirklich beurteilen zu können, wünscht er sich zudem. Diese Erfahrung, die übereinstimmend gefordert wird, ist mehr als nur die Fähigkeit, einen Wolfsbarsch von einer Seezunge unterscheiden zu können.
Ein „Geschmackstalent“ brauche es ebenfalls, sagt Ludwig Fienhold, und das könne man sich nicht so leicht antrainieren. Wer nicht schon zu Hause die sinnliche Erfahrung guten Essens genossen und jahrelang weltweit gut gegessen habe, könne keine Vergleiche ziehen. „Diktatoren des Geschmacks“ dagegen sind die meisten Kritiker für Ralf Frenzel, Chef des Tre Torri Verlags in Wiesbaden.
Unterschiedliche Sichtweisen haben die Küchenchefs, was die Subventionen angeht. Ein Koch mit Hotel oder Sponsor im Rücken könne ganz anders wirtschaften, viel mehr Geld für Zutaten ausgeben. Und dieser Unterschied wird in der Beurteilung meistens nicht erwähnt, kritisiert André Großfeld. Aber kommt es nicht auch einfach auf die handwerklichen Fähigkeiten an? „Geld schießt keine Tore, Geld bringt keine Sterne“, bringt Juan Amador seine Meinung auf den Punkt. Hans Horberth – der im La Vision in Köln das Hotel im Wasserturm als Arbeitgeber hat – kennt die Vorwürfe und sieht keine Problematik: „Es zählt allein, was auf dem Teller ist!“. Was soll er auch sonst sagen.
Und was kommt nach den Sternen?
Wohl dem, der bereits Kochbücher veröffentlicht und seinen Namen dank guter Berater zur Marke erhoben hat, denn nur mit einem Sterne-Restaurant lässt sich gar nicht so viel Geld verdienen, wie man als Außenstehender vermutet. Das Umsatzplus von ca. 30% nach der Verleihung eines Sterns wird durch doppelte Personalkosten und höheren Wareneinsatz sofort vernichtet. Würden die Köche also nicht nebenher über Medienpräsenz, Kochstudios, Bistros und Kochseminare zusätzlich Geld verdienen, hätte sich das Verteilen von mehreren Sternen und hohen Punkten schlichtweg erledigt, weil es diese Restaurants nicht mehr geben würde.
Auch der Gourmetkritiker verdient erst richtig gutes Geld, wenn er sich einen Namen erarbeitet und viele Bücher veröffentlich hat. Gleich ganz eigene Bewertungskriterien entwickelte der Kritiker Jürgen Dollase, die (natürlich) in seinen Büchern „Geschmacksschule“ und „Kulinarische Intelligenz“ nachzulesen sind. Dafür muss er aber auch herbe Kritik einstecken. Arroganz und Überheblichkeit werfen ihm Rezensenten vor, sogar seine herablassende bis beleidigende Art. Als Selbstdarsteller, der emotionslos und blutleer am Thema Essen vorbei schreibt, bezeichnet ihn sein Kollege Ludwig Fienhold.
Einen – wenn auch nicht den einzigen – wirklich genialen Restaurant-Kritiker und eine Instanz sieht sein Buch-Verleger Ralf Frenzel in Dollase. Er habe das Thema Gourmetkritik auf ein völlig neues Niveau erhoben. Es gebe ohnehin viel zu wenig Bildung in diesem Bereich (auf Seiten der Köche und der Kritiker), über Geschmack würde viel zu wenig nachgedacht. Sie brauchen sich also gegenseitig, Koch und Kritiker, zumindest um berühmt zu werden. „Es ist eine Zweckehe“, fasst Juan Amador es zusammen. Der wichtigste Kritiker ist und bleibt aber der Gast.
Juan de la Cruz Amador Perez, der 3-Sterne-Koch mit Restaurant im Mannheim, polarisiert gerne. Er kann es sich ja auch leisten: Nach dem Heritage in Bukarest eröffnete er im Februar in Abu-Dhabi das nächste Objekt unter der Flagge Amador. TOP: 2008 schrieben Sie einem „Hobby-Kritiker“, wie Sie ihn nannten, öffentlich und in aller Schärfe zurück.
Was aber macht einen wirklich guten Gastrokritiker für Sie aus?J.A.: Internationale Erfahrung und Professionalität. Er muss Küchentrends aufnehmen und erkennen können. Objektivität gibt es per se nicht, die Vorlieben werden immer besser bewertet. Kritik bringt uns weiter und auch eine schlechte Bewertung beschert uns Gäste, die diese mit voyeuristischer Lust gelesen haben und die Niederlage vor Ort sehen wollen.
Was kritisieren Sie am Gastrokritiker?
(lacht) Ich nenne keine Namen! Aber im Ernst: Wir werden im Ausland zu wenig beachtet, weil die deutschen Gastrokritiker ihren Job nicht gut machen.
Gäbe es einen 4. Stern, wollten Sie den haben?
Natürlich! Der olympische Gedanke reicht mir nicht, wenn ich mitspiele, will ich auch gewinnen.
Und wäre einer der 3 Sterne weg, was würde das bedeuten?
Ich bin froh und stolz, dass wir in Mannheim gleich wieder 3 Sterne bekommen haben. Damit habe ich gar nicht gerechnet. Es ist vor allem ein wirtschaftlicher Faktor, nur ein 3-Sterne-Koch bedeutet etwas in der Welt und für die Kooperationspartner, die Verträge basieren darauf. Die Bewertung durch den Michelin ist vor allem wichtig für die internationalen Gäste, ich schaue im Ausland auch nicht in die Stadtzeitung, sondern in den Michelin, aber ich finde auch die Blogger-Szene extrem spannend und sie wird an Bedeutung gewinnen.
Bereits 1976 nahm Louis de Funès in „Brust oder Keule“, einer Satire über die Industrialisierung der Lebensmittelherstellung, auch die Gastro-Kritikerbranche aufs Korn.
Als gefürchteter Verfasser des „Duchemin“-Führers schlüpft er in verschiedene Rollen, um nicht erkannt zu werden. Bis heute unvergessen ist die Anfangsszene, in der er als alte Dame verkleidet in einem Nobel-Restaurant speist und vom Personal völlig vernachlässigt wird, weil ein Mitarbeiter seines Verlags im Gegensatz zu ihm erkannt wurde.