Sie ist Frankfurts erste Ehrenbürgerin. Trude Simonsohn, die als junge Frau Auschwitz überlebte, nimmt diese Auszeichnung eher gelassen. Sie fühle sich nicht anders als vorher, betont sie in ihrer gewohnt bescheidenen Art. Eine Institution ist sie ohnehin schon lange in der Stadt. Wenn sie als Zeitzeugin vor Schülern von dem berichtet, was sie als junge Frau erlebt hat, dann beeindruckt sie immer.
Text: Sabine Börchers, Foto: Bernd Kammerer
Inhalt
Das Laufen fällt Trude Simonsohn sehr schwer, seit sie kürzlich gestürzt ist. Ihre Auftritte als Zeitzeugin vor Frankfurter Schülern will sie dennoch nicht aufgeben. „Das strengt mich nicht an, es gehört einfach zu mir“, sagt die 96-Jährige, die seit 1975 in Schulklassen aus ihrem Leben berichtet. Sie begreift das Erzählen bis heute als ihre Pflicht, „das bin ich den Toten schuldig.“ Über ihre Gefühle und Erlebnisse sprechen, das tut Trude Simonsohn seit ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager. „Wir müssen darüber reden. Nur wenn wir uns damit konfrontieren, was wir erlebt haben, können wir lernen, damit zu leben“, hatte ihr Mann damals, 1945, gesagt.
Also erzählte sie und tut es bis heute: Von ihrer Jugend in dem tschechischen Ort Olmütz, in dem es eine große jüdische Gemeinde gab und in dem sie zweisprachig – tschechisch und deutsch – aufwuchs. Weil ihr Vater Zionist war, engagierte sich auch die Tochter in einer zionistischen Jugendbewegung. Die Nationalsozialisten verboten die Bewegung Ende 1941, doch sie machten weiter. Ein Spitzel denunzierte Trude Gutmann, wie sie damals noch hieß, und sie wurde im Juni 1942 verhaftet.
Noch ein Glück
Sechs Monate verbrachte sie im Gefängnis, davon vier Wochen in Einzelhaft. Diese Zeit gehöre zu ihren schrecklichsten Erinnerungen, schreibt sie in dem Buch über ihr Leben, das sie gemeinsam mit Elisabeth Abendroth verfasst hat und das den Titel „Noch ein Glück“ trägt. Denn Glück im größten Unglück erlebte sie immer wieder. Zum Beispiel im Konzentrationslager Theresienstadt, wohin sie vom Gefängnis aus deportiert wurde. „Ich wurde dort von vielen empfangen, die ich aus der Jugendbewegung kannte, sie sorgten für mich. Ich habe trotz allem viel Menschlichkeit erlebt.“
Im Lager, wo sie eine Gruppe junger Mädchen betreute, lernte die junge Trude auch ihren späteren Mann Berthold kennen. Als einzige Frau war sie damals zu einem Vortrag eingeladen, den ein Dr. Simonsohn halten sollte. „Bis heute kann ich nicht verstehen, dass ich mir damals einen Mann mit weißen Haaren und langem Bart vorstellte. Und dann kam dieser gutaussehende Mann, von dem ich hin und weg war“, erzählt sie und weist auf das Foto ihres Mannes, das in ihrem Wohnzimmer neben dem Fernseher hängt.
„Freud sagt, es gibt keine Zufälle.“ – Trude Simonsohn
Es zeigt einen dunkelhaarigen Mann mit offenem Blick. Sie werde häufig gefragt, wie sie sich in einem so schrecklichen Umfeld wie dem Lager habe verlieben können, räumt sie ein. „Das gab es. Und ich habe das sehr zu schätzen gewusst, dass ich in der Hölle meine Liebe gefunden habe.“ Die beiden heirateten noch in Theresienstadt rituell, standesamtlich erst 1949 in Zürich.
Auschwitz
Als ihr Mann vom Lager aus ins KZ Auschwitz deportiert werden sollte, ging sie freiwillig mit. „Ich war schon registriert, ich wäre ohnehin auf einem der nächsten Transporte gewesen“, erklärt sie ihre Entscheidung. Dann berichtet sie, wie der Schwester ihres Mannes der Transport in den Osten erspart blieb, weil ihre Karteikarte verschwunden war. Ein Zufall? „Freud sagt, es gibt keine Zufälle.“ Ihre Schwägerin, die von Theresienstadt aus direkt in die Schweiz gehen konnte, holte die beiden Auschwitz-Überlebenden später nach.
Von ihrem Aufenthalt in dem Konzentrationslager kann Trude Simonsohn bis heute kaum etwas erzählen. Ihr sind nur sehr spärliche Erinnerungen geblieben. „Wenn man sehr große körperliche Schmerzen hat, kann es geschehen, dass man ohnmächtig wird. Das ist ein Segen. Man spürt die Schmerzen nicht mehr. Ich glaube, dass auch die Seele ohnmächtig werden kann“, erklärt sie sich das in ihrem Buch.
Trauerarbeit bis heute
Von der Schweiz aus, wo sich das Paar in der jüdischen Flüchtlingshilfe engagierte und Trude Simonsohn unter anderem traumatisierte Waisenkinder betreute, ging es 1950 nach Hamburg. Auch dort versuchte der Jurist Berthold Simonsohn, älteren KZ-Überlebenden zu helfen. „Sie haben damals nichts gehabt. Mein Mann hat für sie sogar eine Entschädigung dafür erstritten, dass sie einen Judenstern tragen mussten.“
„Ich bin immer an dem Ort, von dem ich erzähle, ich sehe meine Zuhörer dann gar nicht mehr.“ – Trude Simonsohn
In der Nachkriegszeit in Deutschland habe sie erneut Glück gehabt, betont Simonsohn. Von der damals häufig vorherrschenden Atmosphäre aus anhaltendem Antisemitismus, Leugnen oder Verschweigen bekam sie kaum etwas mit. „Wir haben durch meinen Mann immer im Umfeld von Menschen gelebt, die im Widerstand waren. Es hat ja, Gott sei Dank, Leute gegeben, die „nein“ gesagt haben, auch wenn diese in Deutschland viel zu wenig geehrt wurden.“
Wenn Trude Simonsohn erzählt, dann tut sie das unmittelbar, ohne Distanz zu dem Geschehenen. „Ich bin immer an dem Ort, von dem ich erzähle, ich sehe meine Zuhörer dann gar nicht mehr“, beschreibt sie die Situation. Auch die Gefühle kommen dabei oft wieder hoch. „Das ist meine Trauerarbeit, die ich heute mache, weil es damals nicht möglich war. Wenn wir uns das alles nach der Befreiung bewusst gemacht hätten, hätten wir nicht weiterleben können.“
Frankfurt als erstes Zuhause
Trude Simonsohn lebte weiter. Ihr Mann wurde mit der Wiedergründung der von den Nationalsozialisten verbotenen Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland betraut und ihr erster Geschäftsführer. So kam das Paar 1955 nach Frankfurt. Hier fühlte sich Simonsohn das erste Mal zu Hause, wie sie selber sagt. Hier arbeitete sie in der Sozialarbeit und Erziehungsberatung der jüdischen Gemeinde mit, wurde 1989 Gemeinderatsvorsitzende. Hier hat sie, die seit 1978 verwitwet ist, heute zahlreiche Freunde und ihren Sohn.
Besonders wichtig ist ihr aber auch, dass ihre Arbeit vom Land Hessen und von der Stadt Frankfurt geschätzt wird. Dass sie stets freudig und herzlich begrüßt wird, wenn sie zu Veranstaltungen in den Kaisersaal oder in den Tigerpalast eingeladen ist, dem sie seit Jahrzehnten die Treue hält, macht ihr sicherlich ebenfalls Freude. An der Goethe-Universität wurde anlässlich ihres 95. Geburtstages auf dem Campus Westend sogar ein Hörsaal nach ihr benannt.
„Seit 1945 war der Antisemitismus in Europa noch nie so schlimm wie im Moment.“ – Trude Simonsohn
Die Ehrenbürgerwürde bekam sie ein halbes Jahr später. Seitdem liegen noch häufiger Einladungen in ihrem Briefkasten. Ob Trude Simonsohn sie annimmt, weiß sie noch nicht. „Ich habe ja schon so viel erlebt“, sagt die zierliche Frau. Lieber sammelt sie ihre Kraft für die Jugendlichen, denen sie Rede und Antwort steht. Häufig hört sie von den jungen Leuten dann, dass diese sich ein Schicksal wie das ihre gar nicht vorstellen können. Für eine solche Reaktion hat sie durchaus Verständnis. „Wenn ich nicht selbst dabei gewesen wäre, könnte ich das auch nicht. Unsere Seele ist für ein solches Unglück nicht gemacht.“
Um so wichtiger ist es Trude Simonsohn, immer wieder an das dunkle Kapitel deutscher Geschichte zu erinnern, gerade in diesen Zeiten. „Ich mache mir Sorgen, seit 1945 war der Antisemitismus in Europa noch nie so schlimm wie im Moment“, sagt sie. Sie begegnet dieser Entwicklung mit dem Erzählen und ihrer Persönlichkeit. Denn wer ihr zugehört hat, wird diese Erfahrung so schnell nicht vergessen.
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