Die Gegenwart nackter Weiblichkeit kann Max Coga nicht aus der Fassung bringen: Der 33-Jährige hat in der legendären Pik Dame seine Kindheit und Jugend verbracht. Sein Großvater, Polizistensohn Hermann Gauß, hatte Deutschlands ältestes Cabaret 1959 eröffnet. Seit Juni 2021 führt der Enkel die Geschäfte, zusammen mit Vater Oliver und Onkel Thorsten. Während das Publikum hipper und schicker geworden ist, sind sich die Betreiber auch in dritter Generation zu 100 Prozent treu geblieben. Einblicke in eine Familie, die nach dem Prinzip „Alte Schule“ seit Jahrzehnten Frankfurter Erfolgsgeschichte schreibt. Von Kitti Pohl und Anna Scheidemann (Fotos)
Max‘ Mutter Maria war Stripperin, Vater Oliver der Chef des Ladens – und der Junge, „entstanden aus purer Lust und Liebe“, immer dabei: „Ich habe schon früh nackte Haut gesehen. Das war für mich ganz normal. Ich wusste schon als Kind, was abgeht.“
Bei Familie Gauß ist so manches anders als in anderen Familien: Als der sechsjährige Max in der Schule geschlagen wird, wendet sich seine Mutter nicht etwa an die Schulleitung, sondern schickt das Kind zum Kampfsport – es soll lernen, sich zu verteidigen. Max hat Ehrgeiz, Disziplin und Talent. Und sich in der internationalen Mixed Martial Arts (MMA)-Szene einen Namen gemacht: Ein Kampfsport, der in Käfigen ausgetragen wird und wegen seiner Härte umstritten ist.
Konsequentes Training gehört für Max seit Kindertagen zum festen Tagesablauf: „Die Disziplin hat mir immer gutgetan. Kampfsport ist mein Leitfaden, um mich nicht ablenken zu lassen. Wenn du mit Leuten zusammen bist, die Kampfsport machen, hast du gute Freunde. Hast du falsche Freunde, rutschst du als Jugendlicher schnell ab.“ Die Versuchungen und Abgründe des Nachtlebens kennt Max Coga zur Genüge: „Feiern ist halt immer so ein Moment-Ding. Wenn du einen Laden wie die Pik Dame betreibst, musst du ein höheres Ziel haben.“ Wie etwa, deutscher MMA-Champion zu werden – und zwar mehrfach.
” Wenn Du einen Laden wie die Pik Dame betreibst, musst du ein höheres Ziel haben.“ – Max Coga
Lebensqualität Lärm
Drei Jahre lang, seit 2018, war die Pik Dame wegen Renovierung, Umbau und Lockdown geschlossen. Der runtergekommene Flachbau mit den bunten Neonröhren ist in dieser Zeit um sieben Etagen aufgestockt worden, nennt sich jetzt stolz Pik Haus und ist eine Symbiose aus Bar und Wohnraum. Die Fassade beeindruckt in edlem Grau mit bodentiefen Fenstern. Unterm Dachgiebel leuchtet das rote Pik-Logo weithin sichtbar in die Nacht. Die Mieterinnen und Mieter der dreizehn 60-Quadratmeter-Wohnungen wurden von Max Coga streng gecastet: Wer hier einzieht, für den sind Lärm, Lust und Laster ein guter Grund, um sich jeden Tag auf sein Zuhause zu freuen – „auf diesen belebten, lauten Ort“. Coga konnte sich vor Bewerbern kaum retten.
Pik Dame Frankfurt: Rotlicht und Rich Kids
Im Club ist es frischer und moderner geworden, der plüschige Kiez-Mief ist weg, ohne sein angeborenes Flair komplett zu verleugnen – das war der Familie wichtig. Hip Hop-, Elektro- und House-DJs heizen auf zwei Dancefloors oben im Club und im Keller ein. Manchmal läuft auch wie vorm Umbau 90er- und Chart-Musik, dann tummelt sich hier die bewährte Mischung aus Rotlichtgrößen, Rockern, Bankern, Rich Kids und Studierenden.
Was den Gast an einem Abend in der Pik Dame erwartet, ist nie so ganz klar. Max Coga liebt Überraschungen und hält nichts von Ankündigungen auf Social Media. Mit seinen frischen Ideen hat der Gründer-Enkel das altgediente Nachtlokal erfolgreich in die neue Zeit geführt, und das, ohne die traditionellen Werte seines Großvaters zu verraten. Nach wie vor lebt und funktioniert die Pik-Familie nach dem Prinzip der „alten Schule.“ Ein Verhaltenskodex, der im Amüsierviertel als ehrenhaft gilt – und den Opa Hermann, „ein harter Hund“, so Max, schon seinen beiden Söhnen vorlebte.
Vater hat immer Recht
In konservativen Familien würde dieses einfache, aber effektive Erfolgsrezept wohl kaum funktionieren. So lautet ein ungeschriebenes Gesetz: Die Älteren haben grundsätzlich das letzte Wort – und zwar immer. „Wenn einer schon ein paar Kapitel durchgemacht hat, dann hat man Respekt vor ihm. Man fällt einem Älteren nicht ins Wort. Seine Meinung anzuzweifeln oder gar zu widerlegen, ist absolut respektlos“, erklärt Max Coga eine der Grundregeln, die die Familie Gauß seit mehr als 60 Jahren zusammenschweißt: „Mein Vater hat bei Entscheidungen immer das letzte Wort. Da gibt es nichts zu diskutieren. Das ist dann so, und das muss man so hinnehmen. Er trägt dann natürlich auch die Verantwortung.“
” Die Älteren haben grundsätzlich das letzte Wort“ – Max Coga
Pik Dame Frankfurt: Alte und neue Vibes
Die Frage, wie Unstimmigkeiten geregelt werden, erübrigt sich. „Es gibt keine“, erwidert Max trocken. Ein Gauß-Junge würde dem Vater oder großen Bruder nicht widersprechen. Die Älteren verlassen sich umgekehrt auf die Verbindlichkeit und Geradlinigkeit der Jungen. „Mein Vater und mein Onkel vertrauen mir. Sie wissen, dass ich es ernst meine und zu meinem Wort stehe. Ich trage die neue Zeit ins Family-Business und versuche dabei, das Alte mit dem Neuen zu verknüpfen. Letztendlich haben meine Vibes in Kombination mit denen meines Vaters und meines Onkels die Pik Dame neu belebt.“
Pik Dame Frankfurt: Mit Burlesque ging’s los
In den Anfängen bot das gehobene Etablissement den meist männlichen Kunden klassisches Cabaret: Pferde und Schlangenmenschen traten auf. Und Tänzerinnen verschiedenster Nationen, die von einem Sprecher angekündigt wurden, sich auf der Bühne räkelten und gekonnt aus frivolen Kostümen schälten: Was man heute Burlesque nennt, war in der Elbestraße 31 im Bahnhofsviertel Standard. Die Stripperinnen, die hier in den 90er-Jahren auftraten, sind in ansprechenden Schwarz-Weiß-Fotos an der Sichtbetonwand im Club verewigt. Weitgehend ignoriert vom jungen, ausgelassenen Feiervolk: Denn das ehemalige Animierlokal mit anrüchigem Flair hat sich im Jahr 2021 in einen angesagten Club verwandelt, in den jedes Wochenende Scharen von Youngstern Einlass begehren.
Heiliger Boden
Max Coga, der in der Pik Dame den Ton angibt, ist Realist und Hedonist zugleich: „Ich sehe jede Minute als Quality Time – ob ich arbeite, trainiere oder Freizeit habe. Der Laden gehört der Familie, das gibt uns finanzielle Unabhängigkeit. Ich umgebe mich nur mit Leuten, mit denen ich gerne zu tun habe. Ich möchte einfach Spaß.“ Ein gutes Stichwort. Spaß kann und soll in der Pik Dame jeder haben – wenn er keinen Ärger macht und die Harmonie nicht stört. Wobei Harmonie durchaus ausschweifende Exzesse einschließt, solange die Gäste den heiligen Boden respektieren.
Im Separee im hinteren Teil des Clubs sind die Worte „Heiliger Boden“ in verschnörkelten Lettern in den schwarzen Stahlboden gestanzt. Oliver Gauß hat den Begriff vor vielen Jahren geprägt, als Mahnung und Versprechen zugleich: „Auch wenn ihr aneinandergeratet: Benehmt euch. Beruhigt euch. Das hier ist heiliger Boden.“ Fäuste dürfen nicht fliegen, Tische unter der Last der Feiernden zusammenbrechen schon: „Ist ja nur ein Tisch. Da bin ich nicht sauer. Die Pik Dame war schon immer etwas wilder, und ich habe das immer geliebt“, erklärt Max: „Wichtig ist, dass die Leute feiern und die Vibes dabei stimmen. Ich mag keine Schlägereien im Club.“
Aufklärung ist alles
Thorsten Junior ist zwölf und verbringt viel Zeit in der Pik Dame, packt nachmittags und in den Schulferien mit an und wächst ganz selbstverständlich ins Family-Business rein: „Das muss doch sein!“, sagt der hochgewachsene, stille Junge und gibt in seinem ganzen Auftreten zu verstehen, dass er die Verantwortung gegenüber der Familie verstanden hat und ernst nimmt. Max, der Cousin, hat Thorsten Junior unter seine Fittiche genommen.
Dass der Zwölfjährige in der Pik Dame auf dumme Gedanken kommen könnte, ist äußerst unwahrscheinlich: „Das Entscheidende ist eine gewisse Aufklärung, damit Kinder das Geschehen im Rotlichtviertel einordnen können. Auch meine Mutter hat viel mit mir gesprochen und mir Dinge erklärt, mit denen ein Kind normalerweise nicht in Berührung kommt“, sagt Max und erinnert sich dabei sehr gerne an seine eigene Kindheit unter Erwachsenen: „Wenn wir gemeinsam Essen waren, wurde es immer lustig. Ich durfte bis zum Ende des Abends am Tisch bleiben. Egal, ob alle besoffen waren oder es um Themen ging, die ein kleiner Junge besser nicht hören sollte.“
Brille und Blumenkohlohren
Dass seine Familie einen unkonventionellen Lebensstil pflegt, war Max früh bewusst –
und machte ihn stolz. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, seine Leute zu enttäuschen, ein Penner zu werden: Max hat Abitur, ausgesprochen angenehme Umgangsformen, ist wortgewandt und konversiert obendrein hervorragend auf Englisch: ein zugewandter, reflektierter Gesprächspartner, ziemlich smart und immer ein wenig nachdenklich. Hätte er nicht die verformten, knorpeligen Blumenkohlohren, würde man nie auf die Idee kommen, dass dieser höfliche bebrillte junge Mann als „Mad Max Coga“ bei MMA-Galas, unter anderem im Madison Square Garden in New York, ein extrem gefährlicher und gefürchteter Fighter ist.
Beschützer und Aufpasser
Auch Thorsten Junior macht Kampfsport. Vater, Onkel und Cousin behandeln den Jungen in der Pik Dame gleichberechtigt. „Wir sind alle hart zu ihm. Er hat noch zwei kleine Schwestern, deshalb achte ich sehr auf ihn. Er soll lernen, Verantwortung zu übernehmen, damit er seine Rolle als ältester Bruder gut ausfüllen kann“, erklärt Max Coga ein weiteres Gesetz der alten Schule: Ein großer Bruder hat ein wachsames Auge auf die jüngeren Geschwister, vor allem die Mädchen. Er ist ihr Beschützer, Aufklärer und Aufpasser.
„Junge Menschen rennen schnell in die Falle, weil sie es nicht besser wissen“, erklärt Coga, und man ahnt, dass sich dieses Szenario schon hunderttausendmal vor seinen Augen abgespielt hat. „Da lasse ich kein Risiko zu. Auf die Mädchen muss aufgepasst werden. Sie müssen vorbereitet sein, auf Drogen, auf Typen. Sie dürfen Spaß haben, aber mit Augenmaß und Verstand.“ Sogar Kampfsport dürften sie machen, wenn sie wollten, das würde Onkel Max richtig gut finden. Ihr Beschützer ist und bleibt jedoch lebenslang der große Bruder.
Als ehemalige Tänzerin in der Pik Dame weiß Li, Mutter der vier Kinder von Thorsten Gauß, wie das Geschäft funktioniert und Männer der alten Schule ticken. Eine elementare Voraussetzung, findet Max: „Als Frau muss man verstehen, wie man sich hier einfügen kann. Und als Mutter kann sie selbstverständlich erwarten, dass der Kleine nicht verdorben wird, wenn er bei uns in der Pik Dame ist.“ Coga hatte mal eine Freundin, die nicht wollte, dass er ständig im Club rumhängt. Eine unmögliche Forderung. Die Liaison war schnell vorbei.
Frauen als Rückendeckung
Max Coga wählt seine Worte sorgfältig, mit Bedacht. Er weiß, dass Außenstehende dieses Frauenbild für fragwürdig oder gar verachtend halten könnten. Was er dem entgegenzusetzen hat? „Die Frau hat denselben Stellenwert wie der Mann. Sie muss einfach nur wissen, wo sie hingehört. Tatsache ist, dass man in den Anfängen mit Frauen in der Pik Dame Geld verdient hat – ein sehr sensibles Thema.“ Und ergänzt angesichts des zweifelnden Blicks seines Gegenübers: „Wir haben immer auf die Frauen aufgepasst, sie respektiert und gut behandelt. Unsere Frauen sind keine Sklavinnen. Sie sind im Hintergrund und die Rückendeckung des Mannes.“
Auch Li hat Ansprüche an die Partnerschaft: „Männer müssen Frauen beschützen und stark sein, in jeder Hinsicht,“ lächelt die temperamentvolle, selbstbewusste Chilenin und fügt seufzend hinzu: „Mit den Männern hier, das ist manchmal wirklich nicht so leicht.“ Als Li vor 15 Jahren in der Pik Dame als Tänzerin anfing, funkte es zwischen ihr und Thorsten, dem Chef. „Ich war eine gute Tänzerin. Heute bin ich eine gute Mama. Aber tanzen verlernt man nie!“, lacht sie.
Dass ihr Mann sich nach wie vor die Nächte in der Pik Dame um die Ohren schlägt, findet Li völlig normal: „Ich habe Thorsten immer freie Hand gegeben. Er muss seine Zeit nicht ständig mit mir und den Kindern verbringen. Er soll seinen Spaß haben, ich will davon nur nichts mitbekommen.“ Genießt sie selbst Freiheiten in der Familie? „Ich bin Mama. Mamas haben keine Freiheiten“, lacht Li völlig tiefenentspannt, was nicht nur am Yoga liegen kann, welches sie täglich praktiziert. „Ich bin glücklich“, strahlt sie nachmittags beim Besuch mit ihren vier Kindern in der Pik Dame: „Jeder muss seinen Weg gehen.“
Kaffee und Kuchen
Sonntagmittags, wenn es in der Pik Dame Kaffee für Familie und Freunde gibt, bringt Li selbstgebackenen Käse- und Apfelkuchen mit. Die Töchter Lucy und Nelly, fünf und sechs, sausen zwischen dem plüschigen Mobiliar, dem blitzenden Tresen und dem DJ-Pult herum. Oder blättern mit Hermann, dem zweitältesten Bruder, unter den gerahmten Fotos halbnackter Tänzerinnen in einem Bilderbuch.
Zum engsten Kreis gehört noch Max‘ Best Buddy Fritz, mit dem er als Nachbarsjunge aufwuchs: „Ein Bruder, auf den ich mich immer verlassen kann.“ Und Micky, sein Halbbruder. Als Max mit 17 von zu Hause auszog, nahm er den Elfjährigen mit. „Unsere Mutter hatte ja eine Bar und nachts gearbeitet. Sie hat uns vertraut und uns die Freiheit gelassen, zusammen zu wohnen. Ich war dann bei Max. Wir waren schon immer ein Team und unzertrennlich“, erzählt Micky, der wie alle Gauß-Männer im Club mit anpackt und das Pik-Haus als seinen natürlichen Lebensraum betrachtet – und als Privileg.
Wenn am Wochenende Partytime ist, entscheidet Micky an der Tür, wer reinkommt. Mit seinen Mitte 20 ist er äußerst happy mit der neuen, jungen Generation, die seit Sommer den heiligen Boden bevölkert: „Jede Generation zieht so ihre Gruppierungen an, dadurch haben wir sehr gemischte Gäste. Wenn Alt und Jung zusammen feiern, ist das doch super. Letzten Samstag habe ich einen Vater mit seiner Tochter reingelassen, die hatten Mega-Spaß. Der Vater ist ein bisschen früher gegangen.“
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