Ob Nick Cave, Nirvana oder Depeche Mode – nahezu alle musikalischen Ikonen der letzten vier Jahrzehnte standen vor der Linse des niederländischen Fotografen Anton Corbijn.
Mit seinem Talent, ihnen durch körnige Unschärfe, schwarz-weiße Schemen und eine unprätentiöse Inszenierung direkt in die Seele zu blitzen, hat er sie groß gemacht. Sie hingegen verwandelten den Autodidakten vom A. Somebody aus Strijen, Holland, in eine Koryphäe seines Faches. Von Annika John
Zurückhaltend, fast verlegen wirkt Anton Corbijn, als er selbst vor die Linse gebeten wird, um sich porträtieren zu lassen. Bereitwillig stellt er sich in die Mitte der lichtdurchfluteten Galerie von Anita Beckers, verknotet die Hände und blickt ernst in die Kamera. „Das ist nicht meine Welt“, sagt er, als er sich setzt.
Der gebürtige Niederländer kokettiert nicht. Dieses authentische, ruhige Auftreten zeichnet ihn und seine Herkunft aus und ist vielleicht sogar der Grund, weshalb er es so weit gebracht hat, in der Welt des Blitzlichtgewitters, die sich gerne der Maskerade und geschickter Inszenierung bedient.
Aufgewachsen ist Corbijn in Strijen, Holland. Eine beschauliche Kleinstadt, 8781 Einwohner, die meisten davon Viehzüchter, eine spätgotische Dorfkirche, in der sein Vater als Pastor der Evangelischen Gemeinde arbeitet. „Meine Familie und ich, wir haben ein sehr ernsthaftes Leben geführt“, sagt er. „Doch plötzlich tauchten in den 60er Jahren die Beatles und Rolling Stones auf, die mit ihrer Musik in mir eine Sehnsucht nach dem wilden, modernen Leben entfachten. Ich wollte teilhaben an dieser Bewegung, darum lieh ich mir die Kamera meines Vaters aus und fuhr nach Groningen, wo die Rockband ‚Solution‘ spielte.“
„Meine Familie und ich, wir haben ein sehr ernsthaftes Leben geführt.“
Er hob sich ab von jenen, die sich in die erste Reihe stellten und demonstrativ laut ihre Begeisterung kundtaten. Ganz vorne stehen und zugleich nicht auffallen wollte Corbijn dennoch. Weniger, um den Auftritt tatsächlich zu dokumentieren, als sich hinter der Mamiya zu verstecken, „tarnte“ er sich als Fotograf und schoss während des Auftritts beiläufig das ein oder andere Bild. Es waren einfache Aufnahmen – „nicht besonders gut“, sagt er heute – die den Grundstein einer großen Karriere bedeuten sollten.
„Ohne Ahnung von der Kamera zu haben, wusste ich: Das will ich machen.“
Er schickte sie dennoch an ein Magazin, das seine Bilder als „Fotos eines Lesers“ abdruckte. „Ohne Ahnung von der Kamera zu haben, wusste ich: Das will ich machen.“ Beflügelt vom ersten Erfolg, zog es ihn nach London, wo viele seiner Idole lebten. 1979 traf der 24-Jährige auf einem Konzert Joy Division, nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte Ian Curtis in gebrochenem Englisch, ob er die Band fotografieren dürfe.
„Ich kannte U2 bis dahin nicht“
Ein wenig merkwürdig fanden es die Jungs aus Salford, dass Corbijn sie in den Katakomben der Londoner Metro fotografieren wollte, ließen sich aber darauf ein. Die Aufnahme, auf der Joy Division dem Bahnsteig entgegenläuft und nur Ian Curstis zurück in die Kamera blickt, sollte ihn später berühmt machen. Die Tore waren geöffnet. 1982 begann seine Zusammenarbeit mit der Rockband U2 – bekannt waren ihm die Iren bis dahin nicht.
Lachend gesteht er: „Ich habe den Auftrag bekommen, ohne zu wissen, was die Jungs machen, weil ich unbedingt nach New Orleans wollte. Auf dem Weg dorthin habe ich mir ihr jüngstes Album angehört – ich fand es nicht besonders gut. Das Shooting sollte auf einem kleinen Kahn stattfinden, ich wollte danach in die Bars der Stadt flüchten. Leider legte das Boot aber ab und ich war gefangen.
Dann haben wir festgestellt, dass wir uns ziemlich gut verstehen und ich bin noch länger geblieben, als ich musste. Als U2 ein neues Plattencover brauchten, haben sie mich wieder gefragt.“ Viele Jahrzehnte später ist U2 längst zur international gefeierten Kultband avanciert und Anton Corbijn ist noch immer an ihrer Seite, wenn es um Portrait- und Dokumentationsfotografie geht.
Die Band ist für ihn zu einer Konstante durch seine Karriere geworden und er hat für sie einen Teil ihrer legendären Musikgeschichte visualisiert. In dieser wechselseitigen Verbindung könnte das Geheimnis seines Erfolges liegen: Die Größen hinter seiner Linse sind oft nicht nur Modelle, die abgelichtet werden, sondern Persönlichkeiten, die mit ihm auf emotionaler Ebene in Verbindung treten. Dadurch gelingt es ihm, facettenreiche und vielschichtige Nuancen von Intimität freizusetzen und festzuhalten.
Keith Richards habe ich vergessen
„Die Chemie zwischen Fotograf und Modell ist von großer Bedeutung. Zu einem gelungenen Portrait gehören wie ich finde drei Elemente: Es muss zum einen etwas über den Fotografen sagen, zum anderen etwas über das Modell und darüber hinaus muss es dem Betrachter etwas Neues bieten. Wie die ideale Balance zwischen den Elementen aussieht, das kann ich nicht sagen.“ Das Resultat seiner Formel: Ikonische Bilder, zu sehen in den konzeptuellen Serien 1-2-3-4, ausschließlich von Bands und Musikern, darunter die Rolling Stones, Nirvana, Nick Cave, R.E.M, Metallica und Depeche Mode.
„Vor meiner Kamera standen so viele Größen, dass ich die eine oder andere Aufnahme sogar vergessen habe. In der Serie #5 präsentiere ich die sogenannten ‚Verlorenen Aufnahmen‘, die ich erst Jahre später entdeckt habe. Keith Richards zum Beispiel, den habe ich vergessen.“
Später wurden aus den Einzelbildern, der Momentaufnahme, schließlich 24 Bilder pro Sekunde. Erst drehte er zahlreiche Musikvideos, darunter nahezu alle von Depeche Mode, aber auch das derzeit als skandalös rezensierte Video zu „Heartshaped Box“ von Nirvana, Coldplays „Viva la Vida“ oder Herbert Grönemeyers „Zum Meer“. „Den Film habe ich bis dahin nie als mein Metier betrachtet, im Vordergrund stand für mich immer die Fotografie.
Geändert hat sich alles mit dem Tod von Frank Zappa. Als ich in einem Laden stand, ist mir aufgefallen, wie viel Filme und Biografien über ihn existieren – von Captain Beefheart, seinem guten Freund und einem talentierten Musiker, hingegen fast nichts. Ich habe mir gedacht: ‚Hey, wenn Don Lust hat, etwas zu drehen, dann bin ich dabei.‘“ Und so kam es.
Verfilmung der Biografie von Joy Division
Nach dem Film „Don Van Vilet: Some Yo Yo Stuff“ folgte lange kein Script, das sein Interesse weckte, was vermutlich auch daran lag, dass Corbijn sich selbst einredete, kein Filmemacher zu sein. Selbstzweifel spielten ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass ihn die Drehbücher, die ihm angeboten wurden, nicht erreichen konnten. Der Wendepunkt kam 2007 mit dem Drehbuch zu „Control“, einer Verfilmung der Biografie von Joy Division. „Da habe ich gedacht: Ian Curtis also, das könnte ich vielleicht machen. Seine Musik hat mich damals von Strijen nach England geführt.“
„Ich muss den richtigen Zugang zu einem Sujet haben.“
Sein Bauchgefühl, sowohl der Musik als auch dem Porträt treuzubleiben, belohnte ihn mit überwältigendem Erfolg: 25.000 Zuschauer am ersten Wochenende, Auszeichnungen wie „Bester europäischer Film der Filmfestspiele von Cannes“, „Award als bester neuer britischer Film“ des Edinburgh International Film Festival und die „Caméra d’Or“ folgten. Danach prasselten die Anfragen auf ihn ein. „Man hat mir viele weitere Biografien von großen Künstlern angeboten, die verfilmt werden sollten, aber ich habe abgelehnt. Ich muss den richtigen Zugang zu einem Sujet haben.“
Dies geschah erst wieder, als er das Drehbuch zu „The American“ las – es folgte eine Zusammenarbeit mit George Clooney in der Hauptrolle und musikalischer Untermalung von Herbert Grönemeyer. Im Jahre 2015 schließlich ein Angebot, das er unmöglich ablehnen konnte: Die Regieführung des Filmes „Life“, der die Geschichte von James Dean und seinem persönlichen Fotografen Dennis Stock erzählt.
„Der Film lässt mit Film und Fotografie elementare Bereiche meines Lebens verschmelzen. Zwar ist man als Regisseur immer versucht, eine Geschichte noch mehr zu seiner eigenen zu machen, aber dieser Film war mir noch näher als alle anderen davor. Gerade die Szene, in der James Dean durch den Regen läuft und dieses Bild fotografisch eingefangen wird, ist bezeichnend. Dennis Stock, der Fotograf, präsentiert James Dean, wie es niemandem vor und nach ihm gelang.“
Was Anton Corbijn über die legendäre Szene am Times Square sagt, lässt sich als Parabel lesen, die sich auf sein eigenes Wirken bezieht. Ebenso wie Dennis Stock, zeichnet ihn sein echter, unverstellter Blick aus; ebenso wie das legendäre Dean-Foto am Times Square speist sich seine Arbeit nicht aus Glamour und Fassade, sondern zielt auf das Wahrhaftige ab. Auch was er über Dennis Stock sagt, hält ein selbstreferentielles Gleichnis bereit: „Was er macht, ist echt. Es ist kein Marketing, sondern ,something real‘.“