175 Jahre ist es her, dass in der Frankfurter Paulskirche insgesamt 585 gewählte Abgeordnete zusammenkamen, um eine Verfassung für ein einheitliches Deutschland zu beschließen. Doch die Demokratiebewegung beschränkte sich nicht auf die Debatten im Kirchenraum. Sie ergriff die gesamte Stadt, nicht nur, weil die Abgeordneten sie mit ihren Ausschuss- und Fraktionssitzungen oder schlicht bei ihren Übernachtungen in die Café- und Privathäuser trugen. Überall wurde diskutiert, gestritten, bis hin zu blutigen Auseinandersetzungen.
Auch unabhängig vom Jubiläum kann man sich daher in Frankfurt bei einem Spaziergang noch auf die Spuren dieser Bewegung begeben. Sie hat mit dem Scheitern der Nationalversammlung zwar 1849 vorläufig ein Ende gefunden, doch die damals beschlossene Verfassung wirkt in unserem Grundgesetz bis heute nach. Wie kostbar und zerbrechlich demokratische Werte wie Freiheit und Gleichheit sind, wird uns aktuell nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und darüber hinaus täglich vor Augen geführt.
Wenn wir etwas aus der Zeit um 1848 lernen können, dann, dass Demokratie kein Selbstläufer ist. Die Generationen vor uns haben häufig ihr Hab und Gut, ihre Existenz und sogar ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um sie zu erkämpfen. In der Paulskirche legten sie mit der ersten Verfassung den Grundstein dafür, dass heute jede Person ihren Beruf, Wohnort und Glauben frei wählen kann und vor allem ihre Meinung äußern darf, dass niemandem die Todesstrafe droht, dass es ein Briefgeheimnis gibt und die eigene Wohnung als Privatraum gilt.
Stationen beim Spaziergang in Frankfurt
- Die Vorgeschichte
- Der Kaisersaal
- Rund um die Paulskirche
- Großer Kornmarkt 17
- Großer Hirschgraben 27
- Roßmarkt
- Palais Thurn und Taxis
- Die Zeil
Die Vorgeschichte
Dem ersten frei gewählten deutschen Parlament waren einige Jahre des Freiheitskampfes vorausgegangen. Die französische Julirevolution von 1830 entfachte ihn auch in den 34 deutschen Fürstentümern, die zu dieser Zeit, lose vereinigt im Deutschen Bund, zumeist absolutistisch und mit Unterdrückung beherrscht wurden. Es kam überall zu Aufständen. Ende Mai 1832 versammelten sich auf dem Hambacher Schloss in der Pfalz rund 30.000 Menschen und forderten „vereinigte Freistaaten Deutschlands“.
Im April 1833 versuchte eine demokratische Bewegung den revolutionären Umsturz und stürmte dafür die Frankfurter Hauptwache und Konstablerwache. Doch der Plan war verraten worden und der Aufstand wurde innerhalb einer Stunde niedergeschlagen. Die Regierungen in den Fürstentümern reagierten mit noch stärkeren Repressionen. Erst die Märzrevolution in Frankreich entfachte 1848 einen neuen Funken, sodass in den einzelnen deutschen Fürstentümern unter anderem Pressefreiheit und Versammlungsrechte erkämpft wurden. Rund 50 oppositionelle Politiker verschiedener deutscher Staaten bereiteten mit der Zustimmung des Deutschen Bundes in Heidelberg schließlich ein gesamtdeutsches Parlament vor.
Der Kaisersaal
Die Wahlen zur Nationalversammlung, dem ersten einheitlichen deutschen Parlament, mussten vorbereitet werden. Dafür trafen sich die vom Komitee in Heidelberg eingeladenen Männer, immerhin 574 aus allen deutschen Fürstentümern, in der freien Stadt Frankfurt zum sogenannten Vorparlament. Der bekannteste Frankfurter unter ihnen war sicherlich der Struwwelpeter-Autor Heinrich Hoffmann. Die Männer sollten ursprünglich im Kaisersaal tagen. Doch der war für die Menge zu klein. So wurde das Vorparlament am 31. März 1848 zwar dort feierlich eröffnet – unter den Augen der damals fast fertiggestellten Porträts der Kaiser und Könige des Heiligen Römischen Reiches an den Wänden, die für solche liberalen Ideen kein Verständnis gehabt haben dürften – anschließend aber zog man um in die gegenüberliegende Paulskirche. Die evangelische Gemeinde hatte das Gotteshaus „mit Freuden“ zur Verfügung gestellt. Überall in Frankfurt wehten an diesem Tag schwarz-rot-goldene Fahnen, die Häuser waren mit Tannengrün geschmückt.
Am 1. April wurden der Dom, Römer, die Nikolaikirche, die Hauptwache, Brunnen, Obelisken und viele Privathäuser zu Ehren des Vorparlaments illuminiert und mit Transparenten geschmückt. Die Debatten verliefen dagegen chaotisch, es gab eine Masse an Anträgen. Es zeigten sich bereits erste Spannungen zwischen Liberalen und Republikanern, von denen die einen eine konstitutive Monarchie, die anderen aber die Republik befürworteten. Zudem waren Wahlen Mitte des 19. Jahrhunderts ein seltener Vorgang. Wie das Prozedere genau ablief, entschieden die Einzelstaaten, zum Teil unterschiedlich. Am Ende wurden die 585 Abgeordneten aus allen Regionen gewählt, von denen es aber nicht alle zur Eröffnung des Parlaments nach Frankfurt schafften.
Rund um die Paulskirche
Rechts und links vom Eingang der ehemaligen evangelisch-lutherischen Kirche erinnern heute zwei Bronzetafeln an den 50. Jahrestag des ersten Deutschen Parlaments. Geht man links um die Kirche herum, ist dort eine Gedenkplatte für Heinrich von Gagern angebracht. Er war damals einer der einflussreichsten Politiker im Parlament. Seine Familie stammte aus Kelkheim-Hornau, wo heute noch das frühere Gesindehaus, eine Gagernanlage und die Grabstätten seiner Angehörigen zu sehen sind.
An der Paulskirche erinnert eine weitere Tafel an den badischen Revolutionär Carl Schurz, der später Innenminister der Vereinigten Staaten von Amerika wurde. Er hatte sich im September 1848 unter die Besucher der Paulskirche gemischt. In der Grünanlage steht zudem eine Bronzebüste des Künstlers Fred Pirker. Sie zeigt den als volkstümlich geltenden Erzherzog Johann von Österreich, Onkel des damaligen österreichischen Kaisers. Die Nationalversammlung wählte ihn im Juni 1848 zum sogenannten Reichsverweser, also zum provisorischen Oberhaupt des neu zu gründenden freiheitlichen Staates.
Großer Kornmarkt 17
An dieser Stelle stand 1848 die deutsch-reformierte Kirche, eine klassizistische Saalkirche. 1793 fertiggestellt, wurde sie im Zweiten Weltkrieg zerstört. Für die Nationalversammlung spielte sie eine wichtige Rolle, da sie als Ausweichort diente. Schnell hatte sich herausgestellt, dass die Abgeordneten in der Paulskirche bereits im September froren und dass zudem die Akustik äußerst mangelhaft war. Man entschied sich daher, ab November 1848 in 20 Metern Höhe eine hölzerne Zwischendecke einzuziehen. Zudem wurden eine Gasbeleuchtung und eine der ersten Zentralheizungen Deutschlands installiert.
Für die Zeit des Umbaus zogen die Abgeordneten für insgesamt 40 Sitzungen in die nahegelegene deutsch-reformierte Kirche um. Die im Dezember verabschiedeten so wichtigen Grundrechte des Deutschen Volkes wurden daher nicht in der Paulskirche, sondern in diesem Bau erlassen. Gleich gegenüber, am Großen Kornmarkt 12, lag zudem das Büro der Nationalversammlung, das die Organisation übernahm. Es gab alleine acht Schriftführer, die alle Reden, Debatten und Abstimmungen minutiös dokumentierten.
Großer Hirschgraben 27
In einem Stadtpalais rechts neben dem heutigen Goethehaus lebte Clotilde Koch, geborene Gontard, mit ihrem Mann und führte einen politischen Salon, in dem sie mit ihrem Freund Heinrich von Gagern und anderen Politikern bis tief in die Nacht diskutierte. Einige Abgeordnete des Vorparlaments wohnten vorübergehend bei ihr. Sie führte Tagebuch aus der Paulskirche und trug den Spitznamen „Parlamentsmutter“. Andere Frankfurter Häuser, wie die der Brentanos, Rothschilds, Bethmanns und Varrentrapps oder das von Clotilde Kochs älterer Schwester am Roßmarkt 12, dienten ebenfalls als Begegnungsstätte für politisch Interessierte. Obwohl sie nicht wählen durften, interessierten sich Frauen unterschiedlicher Schichten damals für Politik und besuchten Sitzungen oder Volksversammlungen.
Roßmarkt
Die Abgeordneten der Paulskirchenversammlung vertraten unterschiedliche Strömungen, forderten eine konstitutionelle Monarchie oder eine Republik, einen Erbkaiser oder einen gewählten Präsidenten. Sie organisierten sich in Fraktionen, die als Vorläufer der heutigen Parteien gelten. Allerdings waren die Mitglieder häufig nicht festgelegt und wechselten auch mal das Lager. Waren die meist vierstündigen Sitzungen in der Paulskirche beendet, trafen sich die Parlamentarier nachmittags zu Ausschuss-Sitzungen. Die Fraktionen tagten abends.
Da es in der Paulskirche keine Räumlichkeiten dafür gab, kam man mal auf dem Paulsplatz, mal in Wohnungen von Abgeordneten zusammen, meist aber in bestimmten Lokalen und Gaststuben, die die Fraktionen zu festen Treffpunkten machten und nach denen sie sich auch benannten. Im Café Milani am Roßmarkt 15 versammelte sich die konservative Rechte, die vorher im Steinernen Haus am Römer getagt hatte.
Deren Abgeordnete befürworteten einen föderalen Staat aus einzelnen Monarchien. Mit 200 Parlamentariern die größte war die dem rechten Zentrum zugehörige Casino-Fraktion, benannt nach dem Casino am Roßmarkt 10. Sie setzte sich für eine konstitutionelle Monarchie ein. Beide Häuser stehen heute nicht mehr. Ein noch existierendes Gebäude ist aber in der Großen Bockenheimer Straße 9 zu finden, an der Ecke zur Alten Rothofstraße.
Der Deutsche Hof war das Versammlungslokal der Fraktion der Linken, zu deren berühmtestem Vertreter der später in Wien standrechtlich erschossene Robert Blum zählte. Manch ein Parlamentarier erreichte in der Stadt politische Prominenz, so dass Verehrer das entsprechende Lokal belagerten, um ihr „Idol“ zu sehen.
Palais Thurn und Taxis
Heute ist das Gebäude in der Großen Eschenheimer Straße nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg neu und in verkürzter Form rekonstruiert. Ursprünglich erbaut wurde es 1793 als Sitz der Hauptpostverwaltung der Kaiserlichen Reichspost. Als Frankfurt 1816 wieder zur Freien Stadt wurde, tagte hier der Bundestag des Deutschen Bundes, dem nach dem Wiener Kongress gebildeten Zusammenschluss der Fürstenhäuser und freien Städte.
Einmal wöchentlich kamen dort die Gesandten der dem Bund angehörenden Regierungen unter dem Vorsitz des österreichischen Abgeordneten zusammen. Die beiden Großmächte Österreich und Preußen hatten dort das Sagen, und beide hatten kein großes Interesse an einem deutschen Nationalstaat. Ab 1848 war in dem Gebäude aber auch der Sitz der provisorischen Zentralgewalt mit den Reichsministerien. Im Haus Nr. 41 befand sich das „Peinliche Verhöramt“, in dem unter anderem Barrikadenkämpfer verhört wurden.
Die Zeil
Sie zählte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der prachtvollsten Straßen der Stadt. Für kurze Zeit rückte sie im September 1848 ins Zentrum des Weltgeschehens. Je länger die Debatten in der Paulskirche dauerten, desto mehr schwand die schwarz-rot-goldene Begeisterung der Frankfurter. Eine Opposition radikaler Demokraten und Sozialisten außerhalb des Parlaments gewann zunehmend an Einfluss unter den Arbeitern, Handwerkern und Bauern.
Als die Nationalversammlung einem Waffenstillstandsabkommen zwischen Preußen und Dänemark gegen ihren Willen zustimmen musste, trat ihre Ohnmacht gegenüber der Großmacht Preußen offen zutage. Die Stimmung schlug um. Zu einer Volksversammlung auf der Pfingstweide, dem heutigen Zoogelände, kamen mehr als 10.000 Protestierende. Die Wortführer riefen zu einer bewaffneten Versammlung am nächsten Tag auf. Die Nationalversammlung fürchtete ein Blutvergießen. Sie forderte daraufhin bewaffnete Truppen aus den Fürstentümern an. Einige Protestler versuchten tatsächlich, in die Paulskirche einzudringen. Andere nahmen sich die Franzosen zum Vorbild und errichteten am östlichen Ende der Zeil Barrikaden, ebenso am Römerberg und in vielen Altstadtgassen.
Mindestens 600 Menschen kämpften gegen die herbeigerufenen Truppen, die jedoch übermächtig waren. 30 Aufständische sowie 12 Soldaten wurden getötet. Auch zwei Abgeordnete der Casino-Fraktion kamen ums Leben, als sie zum Friedberger Tor ritten. Sie wurden von Aufständischen gestellt, gejagt und tödlich verwundet. Eine unfreiwillige Berühmtheit erlangte dabei die Frau eines Bornheimer Lithografen, an der man ein Exempel statuierte: Die politisch interessierte Henriette Zobel wurde nach dem Aufstand als angebliche Rädelsführerin gegen die beiden Abgeordneten verhaftet und am Ende zu 16 Jahren Zuchthaus verurteilt. Sie habe laut Augenzeugen mit einem schwarzen Regenschirm mehrfach auf den Kopf des einen Abgeordneten geschlagen. Der Schirm, als Corpus delicti zu den Gerichtsakten genommen, ist bis heute im Historischen Museum erhalten.
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