Die Verkehrswende ist längst ausgerufen. In Deutschland und in Hessen sowieso. In Frankfurt merkt man es schon lange. Der Straßenraum für Autos wird schmaler. Links und rechts entstehen rote Fahrradwege. Und das ist – oft – gut so. Die Fortbewegung auf dem Rad ist nicht nur gesund und gut fürs Klima, sondern kann auch als kleiner Beitrag zur Bekämpfung der Energiekrise und Inflation durchgehen.
Radfahrer fühlen sich immer sicherer und strampeln viel häufiger als früher mit ihren Bikes zur Arbeit, in die Schule und zum Supermarkt. Oder sie rollen entspannt durch Wald und Feld. Inzwischen gern angetrieben von einem Elektromotor. Das Netz für Pedaleure wird feinmaschig.
Was Lobbyisten wie der ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad Club) oder der ZIV (Zweirad-Industrie-Verband) erfreut zur Kenntnis nehmen. Und viele andere auch. Denn so spart man CO2. Das kann als kleiner Beitrag zur Dämpfung von Energiekrise und Inflation durchgehen. Vor allem aber kommt es dem Klima und auch der eigenen Gesundheit zugute.
Rad vor Auto
Manchmal allerdings scheinen die Planer ein bisschen über das Ziel hinauszuschießen. Ob der 1,3 Kilometer lange Oeder Weg die „erste Frankfurter Fahrradstraße“ werden musste, darüber lässt sich streiten. Eigentlich schien die Straße im westlichen Nordend mit ihren kleinen Läden und Restaurants fast automatisch zur Langsamkeit anzuhalten. Kamen sich Autofahrer und Radfahrer wirklich öfter in die Quere, wie Radaktivisten behaupten?
Parkplätze sind jedenfalls weggefallen. Poller blockieren und verengen. Ein sogenannter „Modalfilter“ an der Kreuzung zur Holzhausenstraße zwingt zum Linksabbiegen, um den KfZ-Durchgangsverkehr herauszuhalten. Der Beobachter registriert, dass Radfahrer und Autofahrer immer noch die Orientierung verlieren.
Heftige Diskussionen
Die Meinungen zum Projekt sind sehr geteilt. Gewerbetreibende berichten von sinkenden Umsätzen. Anwohner von Schwierigkeiten, einen PKW-Parkplatz in zumutbarer Nähe zur Wohnung zu finden. Bislang ist der Oeder Weg ein einziges Provisorium.
Gleichwohl werden schon Debatten über den Umbau der Robert-Mayer-Straße in Bockenheim und des Kettenhofwegs im Westend geführt. Der Oeder Weg könnte überdies zum Modell für die Leipziger Straße (Bockenheim), die Berger Straße (Nordend, Bornheim) und für die Schweizer Straße (Sachsenhausen) werden. „Wir nehmen kritische Stimmen ernst“, beteuert Stefan Majer, der Dezernent für Mobilität und Gesundheit. Man wird sehen.
Die Frage bleibt, ob dem Radverkehr so rigoros nachgeholfen werden muss. Denn auch ohne drakonische Maßnahmen läuft ja vieles in die richtige Richtung. 2021 war für die Radbranche in Deutschland ein Rekordjahr. Burkhard Stork, Geschäftsführer des ZIV, blickt bei Produktion und Importen auf ein Zehn-Jahreshoch zurück. Auch der Absatz stabilisierte sich auf Spitzenniveau. 4,7 Millionen Räder wurden verkauft, davon zwei Millionen E-Bikes.
„Das Rad ist das wichtigste Verkehrsmittel der Zukunft“ – Burkhard Stork, ZIV-eschäftsführer
Wachstumsbranche
Der E-Anteil am Gesamtmarkt stieg von 39 auf 43 Prozent. Der Trend zum E-Bike werde sich weiter fortsetzen, heißt es. Schon bald erreichten die Pedelecs einen Marktanteil von 50 Prozent, prognostiziert der ZIV. Denn immer mehr Junge stünden mittlerweile auf Elektrik.
Das erkennt man an der Beliebtheit von Modellen. 2021 lagen E-Mountainbikes im Verkauf erstmals vor City- und Trekking-E-Bikes. Das E-Bike wird sportlicher. Zu den Gewinnern gehören aber ebenso die E-Lastenräder. Ihr Anteil stieg von vier auf sechs Prozent – ein Zuwachs von 78.000 Stück auf jetzt rund 120.000. Auch Cargo-Räder ohne E-Antrieb gingen sehr gut, dazu Anhänger und andere Transportmöglichkeiten.
Rekordjahr 2021
Im letzten Jahrzehnt sind noch nie so viele Fahrräder in Deutschland hergestellt worden wie 2022 – trotz Corona und gestörter Lieferketten. Die Unternehmen brachten es auf 2,37 Millionen. Das ist ein Anstieg von satten zehn Prozent. Gleichzeitig trafen 4,14 Millionen Stück aus dem Ausland ein.
Der ZIV schätzt, dass insgesamt 81 Millionen Räder auf Deutschlands Straßen rollen, davon 8,5 Millionen mit E-Antrieb. In diesem Jahr dürften keine Rekordzahlen erreicht werden. Denn Krieg in Europa, Geldentwertung, Fachkräftemangel und Pandemie gehen auch an der Radbranche nicht spurlos vorüber. Immerhin kann das sehr hohe Niveau offenbar gehalten werden. Die Umsätze im Handel sind im ersten Halbjahr 2022 nach wie vor stabil. Auch das stark nachgefragte Leasing von hochwertigen Rädern ist dafür mitverantwortlich.
Volle Fahrradläden
Die Fahrradläden sind voll. Genug Ware ist vorhanden, auch wenn nicht immer jeder Wunsch erfüllt werden kann. Mal fehlt eine bestimmte Farbe, mal ein Rahmen oder auch ein Zubehörteil. Besonders bei Antriebskomponenten für E-Bikes – Batterien, Displays, Chips – gibt es Lieferschwierigkeiten. Etliche Unternehmen haben reagiert und versuchen, sich statt von China aus Taiwan, Kambodscha oder Vietnam beliefern zu lassen.
ZIV-Geschäftsführer Stork lässt sich von augenblicklichen Hindernissen nicht beirren. Er lobt die Radwege-Bau-Offensive, die mit dem Bundeshaushalt 2020 begonnen hat und von der neuen Bundesregierung fortgesetzt wird. Damit hätten die Kommunen die Möglichkeit, langfristig in Radwege zu investieren. „Das Rad ist das wichtigste Verkehrsmittel der Zukunft“, sagt er. Das in Deutschland vor 200 Jahren erfundene Fahrzeug sei „für die Mehrzahl aller Wege im Personentransport“ hervorragend geeignet.
Es ist ein starkes Zeichen, dass die Eurobike in diesem Jahr erstmals ihre Bühne in Frankfurt fand. Ausgerechnet hier, wo jahrzehntelang die IAA stattfand – die große Leistungsschau der Automobilindustrie. Jetzt ist sie nach München gezogen. Eine Zeitenwende? An der Messe präsentierte sich das Fahrrad als das bessere Auto. Egal ob Kinderkutsche, Hundetransporter oder Lieferwagen – fast alles soll möglich sein.
Eurobike statt IAA
Auch Logistik. In Halle 8 dominierten die Cargo-Fahrzeuge. GWW, eine gemeinnützige Behinderteneinrichtung aus Baden-Württemberg, stellte dort ihre in diesem Jahr mehrfach prämierte XCYC-Marke vor – schicke handgefertigte Cargos, die auch Speditionen auf den letzten Meilen unterstützen könnten, wie Vertriebsleiter Thomas Kirn meint.
„Wir agieren noch in einem Nischenmarkt“, stellt er fest. „Doch seit vier Jahren geht es stark aufwärts. Die Krisen befördern die Bereitschaft, sich mit neuen innerstädtischen Verkehrskonzepten auseinanderzusetzen.“ Es sei ja kein Geheimnis, dass die Lastwagen in der City kaum mehr durchkämen. Für ihren sehr zeitgemäßen Auftritt wurden die Macher aus dem Kreis Böblingen mit dem German Innovation Award und dem Green Product Award belohnt.
Ihr dreirädriger „XCYC Pickup Work“ weist ein zulässiges Gesamtgewicht von 300 Kilo aus. Auf die Ladefläche passt lässig eine Europalette. Am Stand nebenan verblüfften die Chinesen von Yoyo Sister mit dem winzigen Fahrzeug UB9035L „für kleine Menschen“. Es soll für bis zu 80 Kilo Ladegewicht geeignet sein. Mit 68 Prozent mehr Cargobike-Verkäufen rechnet eine aktuelle Studie in diesem Jahr.
Cargo und purer Luxus
Dass Räder purer Luxus sein können, demonstrierte Moulton. Die legendären Briten mit Sinn für den feinen Unterschied inszenierten sich um ihr Top Modell „AM R-Double Pylon“. Ein rund 25.000 Euro teurer Eyecatcher mit poliertem Edelstahlrahmen, der höchsten Fahrspaß verspricht. „Das ist unser Rolls Royce“, sagt ohne falsche Bescheidenheit Holger Hammel aus Heusenstamm, der Alleinimporteur von Moulton-Rädern. Selbstverständlich gibt es hier keinen E-Antrieb, dafür aber eine extreme Aerodynamik, die neueste Erkenntnisse der Luftfahrtindustrie nutzt. Das Schmuckstück wird nur in begrenzter Stückzahl angefertigt. Es kann zu Wartezeiten kommen.
Die Leistungsschau rund um das Fahrrad reichte von ultraleichten Einkaufskörben mit Transportring, über ein mechanisches Antiblockiersystem ohne Kontrollverlust beim Bremsen bis zum Radar-Rücklicht, das Überholvorgänge durch Autos von hinten auf dem Display anzeigt. Die vielbeschworene Leuchtturmrolle des Rads unterstrich auf der Messe der hessische Wirtschafts- und Verkehrsminister Tarek Al-Wazir. Er überreichte Preise für fahrradfreundliche Betriebe, die Diensträder bereitstellen, für Radparkmöglichkeiten sorgen oder Duschmöglichkeiten schaffen. Wer sich für das Radfahren stark mache, verschaffe sich Vorteile bei der Suche nach fähigen Mitarbeitern, glaubt der grüne Politiker.
Tempo 30 innerorts
Natürlich bleiben immer Wünsche offen. Sofrony Riedmann, seit August alleiniger Geschäftsführer des hessischen ADFC, beklagt noch immer erhebliche Lücken im Radnetz „nach jahrzehntelanger Autoorientierung“. Gleichwohl lobte er das Engagement der Kommunen und des Regionalverbands im Rhein-Main-Gebiet. „Es tut sich eine Menge, damit die Menschen sicher und komfortabel unterwegs sein können“, konstatiert er.
„Es tut sich eine Menge, damit die Menschen sicher und komfortabel unterwegs sein können“ – Sofrony Riedmann, Geschäftsführer des hessischen ADFC
Er erwartet, dass nun der längst geplante Bau der Radschnellwege zügig vorankommt. Zwar habe man wenigstens mit der Strecke von Frankfurt nach Darmstadt begonnen. Bisher seien aber nur einige Kilometer fertiggestellt. „Wenn das Land grundsätzlich die Baulast übernehmen würde, könnten gerade die kleineren Kommunen entlastet werden“, schlägt er vor. „Wir brauchen beschleunigte Planfeststellungs- und Enteignungsverfahren.“
Blick nach Holland
Die Niederlande seien viel weiter als Deutschland. Der gebürtige Mecklenburger zitiert eine Umfrage. „Bei uns fühlen sich beim Radfahren 42 Prozent noch ungeschützt. Das ist schlecht.“
Er plädiert für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts, eine bessere Vernetzung des Radverkehrs mit dem ÖPNV und eine Aufgabe der Fokussierung auf die Innenstädte. Der 36 Jahre alte Familienvater, der im Frankfurter Stadtteil Praunheim wohnt, erhofft sich viele Radverbindungen zwischen den Stadtteilen und nicht nur in Richtung City. „In zehn Jahren muss auf jeden Fall das Radfahren die schnellste Art der Fortbewegung sein“, fordert er.
Keine Zeit mehr
Dass alles nicht von jetzt auf gleich geht, macht Thomas Novotny von Hessen Mobil deutlich. Seine Behörde für Straßen- und Verkehrsmanagement müsse die Bedürfnisse aller Verkehrsteilnehmer abwägen. Auch der Bau von Radwegen brauche vier oder fünf Jahre Zeit. Unter anderem müssten die bestehenden Eigentumsverhältnisse und die naturschutzrechtlichen Auflagen berücksichtigt werden. Da komme es schon mal zu Verzögerungen wie beim Radschnellweg von Frankfurt nach Darmstadt. „Aber es geht voran.“ Teilabschnitte seien immerhin schon fertig.
Auf rasanten Fortschritt setzt der hessische ADFC-Geschäftsführer. Riedmann hat drei Kinder, von denen eines noch mit dem Lastenrad transportiert wird. „Angesichts der Erderwärmung haben wir nicht mehr viel Zeit.“
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