Ausgerechnet die als geschichtslos gescholtene Finanzmetropole Frankfurt hat mit dem Neuaufbau der Altstadt mehr als siebzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg etwas Einmaliges geschaffen. Mit einem gewaltigen Kraftakt ist die Vergangenheit wieder lebendig geworden. Wer sich von Jochem Jourdan, einer der prägenden Gestalten des Projekts, exklusiv durch die Gassen und in die Häuser führen lässt, spürt die Ausstrahlung des wiederbelebten alten Zentrums. Schon vor der offiziellen Eröffnung Ende September erklärt der Architekt dem Top Magazin das winklige Viertel am Dom. Von Thomas Zorn (Text) und Holger Peters (Fotos)
Der Herr mit den langen weißen Haaren genießt den Ausblick. Wir haben die Dachterrasse im Haus der „Goldenen Waage“ erklommen, das Jochem Jourdan rekonstruiert hat. Er steht auf dem von einem kunstvollen Laubengitter eingefassten Belvederchen und weist mit der Hand in die Weite. „Früher reichte der Blick von hier zum Taunus, zum Odenwald und zum Spessart.“ Heutige Makler würden diesen Platz wohl „Roof Garden“ nennen. Solche Oasen war schon vor 400 Jahren bei reichen Leuten am Main üblich – weit vor der Erfindung der Penthäuser. Seit der Renaissance liebten die Städter in Europa solche „Hügeltheater“, erklärt der bekannte Baumeister und Stadtplaner. Beim erhabenen Blick auf die Natur erholte man sich vom geschäftigen Treiben in den engen Straßen.
Es weht ein leichter Wind, der die hochsommerliche Hitze erträglich macht. Das Belvederchen ist mit einer Größe von 6,40 auf 4,80 Metern das großzügigste und schönste von Frankfurt gewesen. Dann verbrannte die „Goldene Waage“ bei einem alliierten Bombenangriff 1944. Nun ist das Fachwerkgebäude samt Belvederchen wiedererstanden.
Der paradiesische Ort taugt als Symbol für die vielen kleinen und großen Schätze, die nun wieder zur Altstadt gehören. Jourdan, der in diesen Tagen 81 Jahre alt wird, besucht beinahe täglich die Baustelle. Noch muss er heikle Kletterpartien bewältigen. Erst Ende des Jahres sollen alle Arbeiten abgeschlossen sein. Die vor Regen und Sonne schützende Decke des Belvederchens wird beispielsweise noch mit Musikinstrumenten und Ranken bemalt. „Die Motive kennen wir von Beschreibungen recht genau“, sagt der gebürtige Gießener, für den Architektur eine ganzheitliche Disziplin darstellt, die Philosophie, Kunst und sozialwissenschaftliche Aspekte miteinbezieht.
Mit dem Bauherren der „Goldenen Waage“ hat sich der Professor und langjährige Hochschullehrer intensiv beschäftigt. Abraham van Hamel aus Tournai in den Spanischen Niederlanden war als Glaubensflüchtling nach Frankfurt zugewandert. Ursprünglich ein Zuckerbäcker, hatte er mit Farben und Gewürzen gehandelt und in der Frankfurter Altstadt eine Reihe von Häusern erworben.
- Matthias Alexander (Author)
Die 1619 fertiggestellte „Goldene Waage“ sollte van Hamels Reichtum dokumentieren. Als Calvinist hielt er Erfolg für ein Zeichen der Auserwähltheit vor Gott. Auch die kostbaren Stuckdecken im Inneren gehörten zum demonstrativen Repräsentationsbedürfnis. Nun sorgt der Stuckateur Frank Uhlig aus Dresden mit zwei Kollegen dafür, dass diese Kunstwerke in den Sälen und Zimmern wieder zu bewundern sind. Schon vor der Zerstörung gehörten sie zu den Hauptsehenswürdigkeiten des Prachtbaus am Dom. „Wir freuen uns über die anspruchsvolle Arbeit“, erzählt der Handwerker aus Sachsen.
Geschichten bis ins Detail
Das Historische Museum wird demnächst in den oberen Etagen Frankfurts bürgerliche Wohnkultur aus Renaissance und Barock präsentieren. Die Einrichtungsgegenstände waren noch vor dem Bombenangriff ausgelagert worden und kehren nun zurück. Unten, wo der umtriebige Geschäftsmann seine Handelsware zeigte, entsteht ein Café.
Das neue geräumige Domizil, ausgemalt mit leuchtenden und erst kürzlich erforschten Farben, hat Abraham van Hamel kein Glück gebracht. Er wohnte hier mit seiner Frau Anna van Litt, fünf Kindern, Knechten und Mägden keineswegs in schönstem Frieden. Der zur Schau gestellte Luxus hatte das lutherische Patriziat verärgert, das den Baufortschritt immer wieder behindert hatte. Es war neidisch auf den Emporkömmling, der schon 1623 – fünf Jahre nach dem Einzug – starb.
Jochem Jourdan kennt diese Geschichten bis ins Detail. Wer ihm zuhört, staunt über das gut dokumentierte Puzzle, aus dem sich die Altstadt zusammensetzt. Um viele andere Häuser ranken sich ebenfalls Storys, die heute reichlich Stoff für Fernsehserien hergäben.
Nah am Original
Alte Frankfurter erkennen jetzt Bilder wieder, die sie als Kinder im Gedächtnis gespeichert hatten. Das Häusergewirr zwischen Dom und Römer war beim Bombardement vom 22. Mai 1944 bis auf Ruinenreste vernichtet worden. Als über den Abriss des Technischen Rathauses diskutiert wurde, tauchten Anfang des Jahrtausends erste Forderungen auf, einige der verlorengegangenen Häuser zu rekonstruieren. Anfangs war Jourdan skeptisch. Dann überraschte ihn, dass es nicht nur viele Grundrisse, Fotos, Bilder und Beschreibungen gab. Auch Figuren, Portale, Kapitelle oder Gitter lagerten im Depot des Historischen Museums oder bei Privatleuten – hunderte von Einzelstücken. Besonders viele „Spolien“ wurden in die „Goldene Waage“ eingebaut.
- Wolf, Rike (Author)
Nachdem sich Frankfurt für den durch Leitlinien geordneten Wiederaufbau der Altstadt entschieden hatte, bewarb sich Jourdan erfolgreich um drei Rekonstruktionen. Auch für den „Hof zum Rebstock“, ein barockes Messegebäude aus dem 18. Jahrhundert, und für das im Kern aus dem 16. Jahrhundert stammende „Haus Braubachstraße 21“ erhielt er den Zuschlag. „Ich bin glücklich, dass ich diese bedeutenden Aufgaben übernehmen konnte“, sagt er. Als junger Architekt hatte er sich schon an historischen Stadterneuerungsprojekten beteiligt. Das Büro Jourdan & Müller realisierte bis heute mehr als 70 Fachwerkbauten, die instandgesetzt, ergänzt und zum Teil neugebaut wurden.
Aber Jourdan hat auch viele moderne und von der Zunft hochgelobte Häuser konzipiert. „Ich bin nicht rückwärts gewandt“, sagt der Mann, der in den sechziger Jahren mit den Studenten auf die Straße ging. Ihm gefällt die Synthese aus 15 Rekonstruktionen und 20 Neubauten auf dem Altstadt-Areal. Auf dem Weg zum Dom, den früher die deutschen Herrscher zur Krönung beschritten, lobt er ein einfaches, vom Baseler Büro Morger + Dettli gebautes Haus. „Das ist sehr schön in seiner Schlichtheit.“ Die verschieferten Häuser nahe dem U-Bahn-Zugang findet er spannend, geradezu „expressionistisch“. Dass sich andere renommierte Kollegen wie der Berliner Hans Kollhoff mit seinen drei klassizistischen Häusern am Hühnermarkt für Rekonstruktionen entschieden haben, ist für Jourdan ein Beleg, welche Herausforderungen auch Nachbauten an Kreativität und Phantasie stellen.
„Disneyland“
Das von Altstadt-Kritikern gern benutzte Wort „Disneyland“ macht ihn ärgerlich. Davon sei das Quartier sehr weit entfernt. Chinesische Reisegruppen, ein Leierkastenmann und ein schon eröffnetes Souvenirgeschäft lassen allerdings die Befürchtung, hier könne eine Inszenierung für Touristen entstanden sein, nicht völlig unsinnig erscheinen. Gleichwohl ist Jourdan überzeugt, dass die Mischung aus Museen, Boutiquen, Läden für den täglichen Bedarf, Restaurants und Cafés funktioniert. Auch die Braubachstraße, bei den Jungen sehr beliebt, bringe Schwung. Für den erfahrenen Mann vom Bau ist klar, „dass die Altstadt auch für die Bewohner Frankfurts zum Magneten wird.“
Die städtische Dom-Römer-GmbH habe das Projekt von Anfang bis Ende gut gesteuert. Vor allem Geschäftsführer Michael Guntersdorf leiste Überragendes. „Ohne ihn wäre das Ganze hier nicht möglich gewesen.“ Für Etatüberschreitungen trage er keine Verantwortung. 2007 waren die Kosten auf 106 Millionen Euro geschätzt worden. Inzwischen dürften sie bei 200 Millionen Euro liegen.
- Sabine Börchers (Author)
Der Frankfurter Altstadt betrachtet Jourdan vor allem als „städtebauliches Pilotprojekt“. Überall in den Innenstädten seien die Flächen knapp geworden. Gleichzeitig bestehe der Wunsch nach überschaubaren Strukturen und Nachbarschaft. Das Areal gebe ein Beispiel für Wohnqualität in einer Dichte, die sonst von Bauordnungen verhindert werde. Außerdem rege die Begegnung mit der Geschichte zum Nachdenken an. So veranschauliche die „Goldene Waage“, wie Einwanderer die Stadt mit Unternehmergeist bereichert hätten. „Das macht doch Mut.“ Für Jourdan selbst schließt sich der Kreis. „Meine eigenen Vorfahren kamen um 1700 als Glaubensflüchtlinge aus dem Aostatal.“
Die Highlights beim großen Altstadt-Fest vom 28. – 30.9.
Die neue Frankfurter Altstadt wird am letzten September-Wochenende (28. – 30. September) mit einem großen Fest feierlich eröffnet. Das Programm verspricht Spektakuläres. Das sind die fünf Highlights:
1. Drohnen-Show
Wann: Freitag, 28.September um 21.45 Uhr (Generalprobe) und Samstag, 29. September um 21.45 Uhr
Wo: zwischen Eisernem Steg und Untermainbrücke
Der spektakuläre Höhepunkt des Festes um die Eröffnung der Altsadt ist eine 20-minütige multimediale Drohnen-Show . 110 Quadrocopter schweben am Freitag (Generalprobe) und Samstag zwischen Eisernem Steg und Untermainbrücke bis zu 120 Meter über dem Fluss und zeichnen Sternenbilder in den Himmel.
Die Bilder zeigen berühmte Frankfurter Persönlichkeiten wie Goethe und Objekte den Bembel. Für die Beleuchtung sorgen 48 extra starke Großscheinwerfer, für die musikalische Untermalung eine eigens für die Eröffnung komponierte elektronische Musik.
2. hr-Bigband mit Stargast Laith Al-Deen
Wann: Samstag, 29. September, 20 Uhr
Wo: Bühne 1, Open-Air-Bühne am Römer, Römerberg
Liebe auf den ersten Blick: So lautete das Fazit nach dem ersten Konzert, das die hr-Bigband und Laith Al-Deen im Jahr 2011 feierten. Zur Altstadteröffnung stehen das Ensemble und der Mannheimer Sänger wieder gemeinsam auf der Bühne. Das Motto: „Soul am Römer“.
Neben seinen bekannten Hits wie „Bilder von dir“, „Dein Lied“ oder „Alles an dir“ werden auch Funk- und Soulklassiker von James Brown, Johnny Guitar Watson oder Tower of Power zu hören sein.
3. Opernhighlights unter Sternenhimmel
Wann: Freitag, 28. September, 20 Uhr.
Wo: Bühne 1, Open-Air-Bühne am Römer, Römerberg
Sänger aus dem Ensemble der Oper Frankfurt und Mitglieder des Opern- und Museumsorchesters präsentieren Highlights aus dem Programm der neuen Spielzeit unterm Sternenhimmel: Zu hören sind unter anderem Ausschnitte aus Mozarts „Le nozze di Figaro“, Bizets „Carmen“ oder Bernsteins „West Side Story“.
4. Fliegende Volksbühne Frankfurt: Krönungsweg live
Altstadt:
– Freitag, 28.September, 18 bis 22 Uhr
– Samstag, 29. September, 11 bis 22 Uhr
– Sonntag, 30. September, 11 bis 18 Uhr
Krönungsweg:
– Freitag, 28.September, 19.30 Uhr
– Samstag, 29. September, 12, 13, 17 und 19 Uhr
– Sonntag, 30. September, 12:30, 13:30, 15:30 und 17:30 Uhr.
jeweils vom Dom zum Römer
Allerlei wunderliche Figuren in Kostümen bevölkern ab Freitag Gassen, Innenhöfe und Gewölbe der neuen Altstadt. Sie erzählen Geschichten aus dem Quartier oder singen Lieder auf „Frankforderisch“.
Vor allem aber beschreitet der Kaiser höchstselbst mit Frankfurter Gefolge den wiederhergestellten Krönungsweg vom Dom zum Römer. Das Ganze wird begleitet von Musik und szenischen Darbietungen.
5. Dresden Frankfurt Dance Company: Framing Reality
Wann: Freitag, 28. September und Samstag, 29. September jeweils 19:30 – 20:30 Uhr
Wo: Frankfurter Kunstverein, Markt 44
Die Performance „Framing Reality“, die der Frankfurter Kunstverein in Kooperation mit der Dresden Frankfurt Dance Company, geleitet von Jacopo Godani, präsentiert, feiert Premiere.
Bei Einbruch der Dämmerung dienen die Fensterfronten des Frankfurter Kunstvereins als Ort für tänzerische Interventionen, kombiniert mit einer dramatischen Lichtschau. 17 Tänzerinnen und Tänzer lassen Tableaux Vivants – lebendige Bilder – entstehen. Die strenge, modernistische Architektur des Gebäudes mit ihren rechteckigen Glasfronten wird zu einem überdimensionalen Leuchtkasten und einer einzigartigen Bühne, die in die neuen Gassen des Dom-Römer-Areals strahlt.
Die 60-minütige Performance wird rhythmisiert durch eine eigens programmierte Sequenz aus Licht und elektronischer Musik.
Anreise mit dem ÖPNV – Einen Tag zahlen, drei Tage feiern
An den drei Tagen des Festes werden bis zu 250.000 Besucher erwartet. Die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist empfehlenswert. Der RMV bietet zum Altstadtfest eine besondere Aktion. Unter dem Motto „Einen Tag zahlen, drei Tage feiern“ sind alle am Freitag, den 28. September gekauften Tages- und Gruppentageskarten auch an den folgenden beiden Tagen gültig.
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