Die Schauspieler am Deutschen Theater oder an der Burg in Wien sind ausgebildet an den bekannten staatlichen Schulen wie der „Ernst Busch“ in Berlin oder der Otto-Falckenberg-Schule in München, denken Sie? Nicht nur. Sie kommen auch von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt. Seit Kurzem gibt es dort sogar eine Professur speziell für Filmrollen.
Tim Werths und Julian von Hansemann – diese Namen sollten Sie sich merken, wenn Sie gerne das Burgtheater in Wien besuchen. Werths spielt dort derzeit unter anderem den gutaussehenden Gegenpart des Cyrano de Bergerac, beide stehen in Maria Stuart an der Seite von Bibiana Beglau und Birgit Minichmayr auf der Bühne. Ihr Handwerk gelernt haben beide vor einigen Jahren in Frankfurt, an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK). Und sie sind nicht die Einzigen, die es von Frankfurt aus hoch hinaus geschafft haben. Schaut man in die Liste der Engagements der Absolventen vom Main, sind dort immer wieder neben dem Burgtheater andere renommierte Namen wie das Deutsche Theater Berlin oder das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg zu finden. Auch in andere Sparten haben es Absolventen geschafft. So spielt Vincent Lang, der sein Studium 2019 abschloss, derzeit eine der Hauptrollen im Hamburger Musical „Harry Potter und das verwunschene Kind“.
Dabei ist die HfMDK vor allem für ihre Musiksparte bekannt. Dass es an der Hochschule seit den 1960er-Jahren einen kleinen, aber feinen Ausbildungsbereich Schauspiel gibt, wissen die Wenigsten. Jedes Jahr werden dort gerade mal acht von rund 400 bis 500 Bewerbern ausgewählt, die die vierjährige Ausbildung absolvieren dürfen. Zum Vergleich: Die Ernst-Busch-Schauspielschule bildet im Jahr 24 Studierende aus. „Unser Studium ist sehr persönlich, wir arbeiten in einem engen Austausch“, sagt die Frankfurter Ausbildungsdirektorin Prof. Marion Tiedtke.
Auch das Studiojahr, in dem die Studierenden des dritten Jahrgangs bereits erste Rollen am Schauspiel Frankfurt und seit diesem Semester auch am Landestheater Marburg, Staatstheater Mainz und bald am Nationaltheater Mannheim übernehmen können, ist etwas Besonderes, da es in Frankfurt keine Studiobühne gibt. Zudem sei das Studium sehr auf die individuelle Künstlerpersönlichkeit ausgerichtet. „Wir legen, anders als viele andere Hochschulen, den Schwerpunkt auf die Diplomeigenarbeit.“
Die Studierenden müssen dafür eine eigenverantwortliche Arbeit entwickeln, sich ein Thema suchen, Partner dafür auswählen und die Proben eigenständig umsetzen. Wie unterschiedlich eine solche Arbeit ausfallen kann, zeigen zwei Beispiele aus dem Abschlussjahrgang 2022, die Marion Tiedtke nennt: Vanessa Bärtsch, die jetzt am Schauspiel Bern engagiert ist, hat einen eigenen Monolog geschrieben und eine Soloperformance aufgeführt. Max Böttcher und Jonathan Lutz, beide derzeit freischaffend tätig, haben eine Band gegründet, eigene Musik und Texte geschrieben und sind damit aufgetreten.
Unterricht aus der Praxis
Derzeit bilden die 20 deutschsprachigen Schauspielschulen ihre Studierenden primär für die Bühne aus, bestätigt Marion Tiedtke. Doch der Arbeitsmarkt für Theaterschauspieler werde immer enger, räumt sie zugleich ein. „Wir orientieren uns sehr am Arbeitsmarkt für die Studierenden. Deshalb haben wir uns überlegt, wie wir sie so aufstellen können, dass sie ihre künstlerische Persönlichkeit entwickeln, ihren eigenen Ausdruck finden und in den unterschiedlichen Medien Bühne, am Mikro und vor der Kamera agieren können.“
Bisher haben es namhafte Schauspieler vor allem aus eigener Kraft geschafft, auch regelmäßig im Film zu arbeiten, wie der hessische Tatort-Kommissar Wolfram Koch oder der unter anderem aus der Serie Babylon Berlin bekannte Udo Samel, der auch schon an der Oper Frankfurt inszeniert hat. Beide absolvierten ihr Studium einst an der HfMDK. Marios Gavrilis, Absolvent von 2010, synchronisiert mittlerweile auch Hollywood-Filme und heimste dafür schon Preise in Los Angeles ein. Kristin Alia Hunold, Tochter des Schauspielers Rainer Hunold, spielte in der Netflix-Serie „Skylines“ sowie in zahlreichen Fernsehserien mit.
Jetzt setzt die Frankfurter Hochschule jedoch verstärkt darauf, den Studierenden Kompetenzen für die Arbeit vor der Kamera zu vermitteln. „Es gibt dort heute so viele Möglichkeiten, im Film, in Serien, durch die Videotechnik, selbst in der Spielewelt.“ Weil dieser riesige Arbeitsmarkt aber andere Produktionsbedingungen mit sich bringt, und damit andere Kompetenzen von den Schauspielern fordert, hat die Hochschule in diesem Semester eine neue Professur für Schauspielpraxis für Bühne und Film eingerichtet. Brigitte Maria Bertele, die seit Oktober in dem Fach unterrichtet, kommt selbst aus der Praxis. Sie ist Schauspielerin und Filmregisseurin, die unter anderem für ihren Spielfilm „Der Brand“ mit Mark Waschke, Florian David Fitz und Wotan Wilke Möhring in den Hauptrollen sowie ihren Fernsehfilm „Grenzgang“ mit Claudia Michelsen und Lars Eidinger jeweils einen Grimme-Preis erhielt.
Gnadenlose Kamera
Entsprechend praktisch gestaltet Bertele ihren Unterricht. Das beginnt im ersten Jahr mit Übungen vor der Kamera. „Die Studierenden sollen natürlich reagieren, das Vertrauen in den Augenblick haben und sich nicht vornehmen, etwas zu spielen“, erläutert sie. Das Grundprinzip für gutes Schauspiel sei es, aus dem Moment heraus zu agieren und im Geiste nicht schon bei der übernächsten Replik auf das Gegenüber zu sein. „Man muss sich auf den Partner oder die Partnerin einlassen.“ Das gilt natürlich auch für die Bühne. „Die Kamera ist allerdings gnadenloser im Sezieren. Sie bildet alles ab.“ Die Studierenden müssten ein Vertrauen zu sich selbst entwickeln, eine Natürlichkeit und Angstfreiheit vor der Kamera, sie müssten auch zulassen, angeschaut zu werden. Und sie müssten lernen, dass sie bei der Aufforderung „Bitte“ zu 100 Prozent präsent sind und sich in der Regel nicht frei im Raum bewegen können.
”Die Studierenden sollen vor der Kamera natürlich reagieren, das Vertrauen in den Augenblick haben und sich nicht vornehmen, etwas zu spielen.“ – Brigitte Maria Bertele, Professur Schauspielpraxis für Bühne und Film HfMDK
Im zweiten Jahr setzt die Professorin darauf, konzentriert an einer Szene zu feilen und dabei auf jedes Detail zu achten. „Man arbeitet am Körperausdruck, besonders in den Nahaufnahmen. Das Magische an der Kamera ist ja, dass sie, indem sie einem Menschen in die Augen guckt, Gefühle abbilden kann, die dieser gar nicht äußerlich zeigt. Dass man einem Menschen also beim Fühlen und Denken zusehen kann.“ Das erfordere aber auch ein hohes Maß an Selbstbeherrschung. „Wenn jemand zum Beispiel aus Nervosität ständig blinzelt, ist der Zugang für den Zuschauenden sofort versperrt.“ Körperbeherrschung insgesamt ist für das Agieren vor der Kamera besonders wichtig, betont die Professorin. „Wer in einem Verhörraum sitzt, hat wenig Möglichkeiten, sich zu bewegen. Da braucht es ein anderes Spannungsverhältnis im Körper, oder“, bringt Bertele es auf den Punkt: „das richtige Maß an Spannung, ohne überspannt zu wirken“.
Viel Eigenverantwortung
Die Arbeitsweise vor der Kamera unterscheide sich stark von der auf der Bühne, stellt sie fest. „Organisch ist das Spiel dasselbe, die Lebendigkeit, Spontaneität, die Balance, das Agieren und Reagieren, aber die praktische Art der Herstellung ist der große Unterschied.“ Während im Theater sechs bis acht Wochen lang geprobt, dabei immer wieder gemeinsam entworfen und verworfen werde, bleibe beim Film wenig bis gar keine Probenzeit. Das erfordert ein hohes Maß an Eigenverantwortung bei der Vorbereitung. „Am ersten Drehtag beim ersten Take muss man sofort auf die Tiefe einer Figur und einen mehrschichtigen Charakter zugreifen können, um eine Szene in voller Präsenz zu durchleben.“
Auch technische Kenntnisse über die Kamera sind für einen Schauspieler von Vorteil. „Die Linse bildet einen ganz anderen Raum ab als den realen, man sollte wissen, was eine Brennweite bedeutet und sich vorstellen können, wie das Bild am Ende aussieht.“ Das Besondere am Film sei es zudem, dass nicht chronologisch gedreht würde, man also eine Geschichte nicht von vorne nach hinten erzählt. Der Schauspieler muss dabei immer wissen, wo die Figur in ihrer Entwicklung gerade steht. „Ich stelle mit den Studierenden so etwas wie eine Partitur für die Entwicklung der Figur her. Wir kartographieren eine innere Reise, legen fest, wo der emotionale Höhepunkt ist und wo sie sich vielleicht in einer Erstarrung befindet.“ So gut das klingt, eine Art Fahrplan für den Dreh zu haben. Es ist doch nur eine Seite der Medaille. „Manchmal entwickelt sich eine Figur beim Dreh auch ganz anders, sodass man die Partitur immer wieder aktualisieren muss.“
”Ich stelle mit den Studierenden so etwas wie eine Partitur für die Entwicklung der Figur her. Wir kartographieren eine innere Reise, legen fest, wo der emotionale Höhepunkt ist und wo sie sich vielleicht in einer Erstarrung befindet.“ – Brigitte Maria Bertele, Professur Schauspielpraxis für Bühne und Film HfMDK
Pionierarbeit
An der Hochschule in Frankfurt muss Brigitte Maria Bertele die Filmsparte ganz neu etablieren. Bislang gab es einzelne Workshops zum Thema für die Studierenden und ein Kameratraining, die aber nicht in Frankfurt stattfanden. „Es gibt kein Filmstudio, Frau Bertele leistet hier Pionierarbeit“, betont Marion Tiedtke. Das beginne damit, einen geeigneten Raum zu finden, der groß genug für Filmaufnahmen sei, über Tages- und Kunstlicht, aber auch Verdunkelungen verfüge. „Und das bei der chronischen Raumknappheit der Hochschule.“ Dazu kämen die Kameraausrüstung und Schnittmöglichkeiten. „Die Studierenden müssen das Material direkt sichten können, damit sie etwa die Stärke ihres Ausdrucks auf die Brennweite der Kamera abstimmen können.“
Dass das Thema Film für Schauspielstudierende immer wichtiger wird, liegt auch am Boom der Streamingdienste, die heute mit eigenen Produktionen weit mehr Arbeitsmöglichkeiten bieten. Sie legen aber auch die Messlatte für schauspielerisches Können höher, findet Brigitte Maria Bertele. „Durch die Internationalisierung sind die Schauspielerinnen und Schauspieler mit vielen anderen vergleichbar, sogar mit Darstellern aus Neuseeland. Dadurch ist auch das Publikum anspruchsvoller geworden.“ Marion Tiedtke überlegt bereits, ob es sinnvoll sein könnte, an der Hochschule künftig auch Englischunterricht anzubieten, um den Studierenden auf dem internationalen Markt noch größere Chancen zu ermöglichen. Dann schaffen die Absolventen der HfMDK es künftig sicher noch höher hinaus.
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