Seit dem 1. Januar 2021 ist Prof. Dr. Klement Tockner neuer Direktor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung. Der gebürtige Österreicher will mit den deutschlandweit zu Senckenberg zählenden drei Museen und sieben Forschungsinstituten „Großes wagen“.
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Der Berliner Bär ist noch nicht mit umgezogen. Er steht normalerweise auf dem Schreibtisch von Klement Tockner. Da der neue Direktor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung sein Büro im erst vor zwei Jahren umgebauten ehemaligen Hauptgebäude der Goethe-Universität in Bockenheim gerade bezogen hat, kommt der Bär nach. Eine Schneekugel mit dem Wiener Stephansdom wird sich dazugesellen, erzählt er. Damit hat er künftig zwei seiner „Heimaten“ stets im Blick. In der Steiermark geboren, war der 58-Jährige in den vergangenen fünf Jahren als Präsident des österreichischen Wissenschaftsfonds FWF in Wien tätig. Zuvor leitete er neun Jahre lang das Leibnitz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin.
„Zweckfreie Grundlagenforschung ist ausschlaggebend. So entstehen Innovationen. Der schnellen Entwicklung des Impfstoffs gegen das Corona-Virus lagen 20 bis 30 Jahre solcher Forschung zugrunde.“ – Klement Tockner, Senckenberg Gesellschaft
„Jetzt wird Frankfurt meine Heimat“, stellt er lächelnd fest. Heimat, das ist für ihn nicht nur die Steiermark. Der Begriff symbolisiert für Tockner vielmehr die Verbundenheit mit besonderen Orten seines Lebens. „Sie hängt natürlich von den Menschen ab und davon, dass man sich auf die jeweilige Stadt einlässt.“ Deshalb stand für ihn auch fest, dass er sich mit seiner Frau eine Wohnung mitten in Frankfurt suchen will. Das urbane Flair gefällt ihm. Ebenso wie der Kontrast zwischen der Skyline, die ihn an US-amerikanische Städte wie Pittsburgh erinnert, und der Tradition, die die Stadt ausmache. „Frankfurt ist eine Weltstadt, wahrscheinlich mehr als Berlin.“
Zu besagter Tradition zählt für ihn nicht nur die Paulskirche als Symbol der Demokratie, sondern natürlich auch die Senckenberg Gesellschaft, die in diesem Jahr 203 Jahre alt wird, und mit ihr das gleichnamige Naturmuseum, das seinen 200. Geburtstag feiert. Mit beiden hat er große Pläne. Nachdem das Forschungsinstitut durch Umbauten seine Fläche erheblich vergrößern und modernisieren konnte, gehe es nun darum, das Museum gemeinsam mit der neuen Leiterin Dr. Brigitte Franzen weiterzuentwickeln und auf fast die doppelte Ausstellungsfläche auszubauen. Ein „Familienmuseum von Weltformat“ stellt er sich vor. „Nichts Elitäres, die Leute aus der Region sollen kommen, aber auch darüber hinaus.“ Das Ziel sei, dass Frankfurt-Besucher künftig einen Tag dranhängen, um das Senckenberg Naturmuseum nicht zu verpassen.
Zukunftsinstitut
Und zwar nicht nur, um sich von den Dinosauriern oder dem Riesenkalmar im neuen Tiefsee-Themenraum beeindrucken zu lassen. Für Klement Tockner haben Museen eine weitreichendere Bedeutung. Es seien Orte, an denen das Gezeigte ein hohes Vertrauen genießt. Entsprechend können Interessierte sich im Senckenberg Naturmuseum objektiv informieren und ihnen kann zugleich Wissenschaftliches verständlich nahegebracht werden.
Dass die Wissenschaft in unserer Gesellschaft von immer größerer Bedeutung ist, wird spätestens seit der Diskussion um den Klimawandel, den Verlust der Artenvielfalt und die Corona-Pandemie immer deutlicher. Die Senckenberg Gesellschaft erarbeite seit mehr als 200 Jahren dieses Wissen und stelle es allen zu Verfügung. Insofern sei es ein Zukunftsinstitut, findet Tockner und hebt bei diesen Themen gleich zu Grundsätzlichem an: Das Corona-Virus zeige drastisch, wie sehr die Gesundheit der Menschen von einer intakten Natur abhänge und wie dramatisch die Erosion der Natur voranschreite. So würden wir etwa mit den fossilen Energieträgern jedes Jahr 500.000 Jahre Erdgeschichte verbrennen. „Wissenschaft ist Vorsorge. Und die ist besser und kostengünstiger als eine Heilung“, betont er und warnt, dass wir derzeit einen Kampf gegen unsere Zukunft führen. Habe die Natur einmal verloren, sei dies zumeist unumkehrbar. „Wir stehen dabei erst am Beginn dieser großen Beschleunigung und wissen nicht, wie tiefgreifend und unkontrolliert die Veränderungen sein werden, die auf uns zukommen.“ Wichtig dabei sei, dass die Wissenschaft sich das Vertrauen der Bevölkerung erarbeite – auch ohne jedes kleine wissenschaftliche Detail zu vermitteln.
Archiv der Natur
Sieben Forschungsinstitute und drei Museen in insgesamt sieben Bundesländern zählen zur Gesellschaft für Naturforschung. Darunter Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven und das Deutsche Entomologische Institut in Müncheberg bei Berlin, das ausschließlich Insekten erforscht. Hinzu kommt so etwas wie ein Archiv der Natur: Die zoologischen, botanischen und geologischen Sammlungen des Hauses umfassen mehr als 40 Millionen Objekte.
„Die Gesellschaft steht heute dank meines Vorgängers, Volker Mosbrugger, an der Weltspitze der Forschung. Sie hat eine unglaubliche Entwicklung durchgemacht. Die Herausforderung ist nun, diese Stellung zu halten“, umreißt Tockner seine künftige Aufgabe. Dafür will er Synergien schaffen innerhalb der Gesellschaft und mit Partnern weltweit. Ihm geht es darum, die rund 800 Mitarbeiter mitzunehmen und die mehr als 300 Wissenschaftler unter ihnen zusätzlich anzuspornen: „Lasst uns einfach Großes wagen. Jeder, der etwas erreichen will, wird unterstützt.“ Wissenschaft sei nun einmal keine kleinliche Buchhalterei, bei der jedes Jahr das Ergebnis ermittelt würde, sondern muss groß denken können und auch einmal scheitern dürfen.
„Lasst uns einfach Großes wagen. Jeder, der etwas erreichen will, wird unterstützt.“ – Klement Tockner, Senckenberg Gesellschaft
Tockner selbst ist Zoologe und Botaniker. Der Österreicher wuchs als siebtes von neun Kindern auf einem Bauernhof in einer entlegenen Gegend in der Steiermark auf. „Wir hatten keinen Fernseher, kein Auto, im Winter bin ich mit dem Schlitten in die Schule gefahren.“ Bis heute gibt es den Hof mit Ziegen, den mittlerweile sein Neffe betreibt. Um sein Abitur zu machen, ging Klement Tockner früh auf ein Internat in der Landeshauptstadt Graz und verbrachte nur noch die Ferien Zuhause. Vielleicht sei der Wunsch rauszukommen, wenn man aus so einem kleinen Ort kommt, besonders groß, überlegt er.
Neues entdecken, das hat ihn nach dem Abitur in jedem Fall angetrieben. Die Vorlesungsverzeichnisse versprachen Exkursionen nach Südamerika, das reizte ihn genauso wie das Studienfach selbst. „Ich wäre auch als Astronom, Geograf oder Historiker glücklich geworden. Aber wenn man sich entscheidet, muss man das, was man machen will, auch mit voller Energie machen.“ Er spezialisierte sich auf Gewässerökologie und verfasste 2009 ein Standardwerk zu den Flüssen Europas. Dass das Senckenberg Museum am 18. Juni eine Ausstellung zum Thema „Flüsse“ eröffnet, passt perfekt.
Nach Studium und Promotion in Wien ging Klement Tockner zunächst als Berater für Gewässermanagement nach Ruanda und Uganda. Zwei Wochen vor Ausbruch des Völkermordes in Ruanda, bei dem zwei seiner Mitarbeiter vor Ort ermordet wurden, flog er zurück nach Europa. Dass er anschließend wieder in die Wissenschaft gehen würde, lag nicht unbedingt auf der Hand. Als er an der Technischen Hochschule, der ETH Zürich, eine Möglichkeit dazu sah, bewarb er sich einfach. Heute weiß er, dass der Professor, der ihn einstellte, dies nicht tat, weil Tockner wissenschaftlich bereits viel vorzuweisen gehabt hätte, sondern aufgrund seiner Begeisterung und seiner Ideen. „Es gibt keinen linearen Karriereweg, es gibt Kreuzungen, an denen man sich entscheiden muss“, sagt er. Dass es reines Glück sei, wohin der Weg einen führt, daran glaubt Tockner nicht. „Man muss dem Glück entgegengehen. Es ersetzt nicht die Anstrengung.“
Neugierde wecken
Seine Anstrengung gilt nun neben der Senckenberg Gesellschaft auch den Studierenden des Fachbereichs Biowissenschaften der Goethe-Universität, an der er zugleich eine Professur für Ökosystemwissenschaften übernimmt. Auch Forschungsprojekte bei Senckenberg begleitet er nach wie vor. „Ich gehe nicht mehr ins Feld, ich beschäftige mich stärker mit der konzeptionellen Entwicklung“, sagt er, erzählt aber zugleich begeistert von einem kleinen Projekt zur kulturellen und biologischen Vielfalt, für das etwa die Entwicklungen in Oasen in der Wüste erforscht werden, und einem anderen Vorhaben, das die Bedeutung der Ästhetik der Natur für das Wohlbefinden der Menschen untersucht. „Wir sehen gerade in der Pandemie, dass das eng miteinander verbunden ist.“
Seine Aufgabe sieht Klement Tockner auch darin, Schnittstelle zwischen den wissenschaftlichen Instituten, den Museen und den Menschen zu sein. „Es gibt nur wenige Städte, die über eine so stark engagierte Bürgergesellschaft verfügen“, stellt er fest und freut sich darauf, sie und noch viele Frankfurterinnen und Frankfurter in den nächsten Monaten kennenzulernen. Dabei ist es ihm wichtig, Engagierte wie Museumsbesucher in die wissenschaftlichen Diskussionen und in die Forschung der Senckenberg Gesellschaft noch stärker einzubinden. „Wir wollen mit bürgerbeteiligten Projekten arbeiten, bei denen die Menschen beispielsweise Daten liefern, sie aber auch schon an der Entwicklung von Fragestellungen beteiligen.“ Ihre Neugierde soll geweckt werden, indem sie beispielsweise die rund 100 Expeditionen mitverfolgen können, die Senckenberg jedes Jahr unternimmt. Wenn Klement Tockner erzählt, merkt man ihm an, dass er sich die eigene Lust am Entdecken bis heute bewahrt hat. Sie wird ihm sicher dabei helfen, in Frankfurt schnell heimisch werden.
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- McAnulty, Stacy (Author)
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