Seit gut einem Jahr ist die Kultur in unserem Land so gut wie lahmgelegt. Statt Livekonzerten und Museumsbesuchen sind nur noch virtuelle Auftritte und Online-Ausstellungen möglich. Viele Institutionen haben sich umgestellt und präsentieren sich im Netz. Mal ist es für sie nur Ersatz mal aber auch eine willkommene Chance.
Sebastian Weigles Lebensumstände sind auf den Kopf gestellt. „Ich empfinde es als Katastrophe, nicht auftreten zu können, unsere Kunst nicht dem Publikum live zu präsentieren, das ist ein grauenvolles Gefühl, fast nicht gebraucht zu werden“, schreibt uns der Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt aus Tokio. Regine Schmitt, Geigerin des von ihm geleiteten Opern- und Museumsorchesters, kann da nur zustimmen. Bis auf die leichte Lockerung im vergangenen Sommer ist sie, wie ihre 114 Kollegen, seit einem Jahr Zuhause und ohne jegliche Auftrittsmöglichkeit. „Das gab es noch nie. Seit ich fünf Jahre alt bin, ist die Musik der rote Faden in meinem Leben. Nicht öffentlich spielen zu können, ist eine Entbehrung“, sagt sie, die zugleich Mitglied des Orchestervorstands ist. Zu ihrem Glück sind die Musiker des Orchesters fest angestellt, derzeit in Kurzarbeit, und müssen nicht um ihr Auskommen bangen, wie so viele ihrer freiberuflichen Kollegen.
Gerade durfte Regine Schmitt das erste Mal seit Beginn des Lockdowns im vergangenen Winter sogar wieder mit einer Kollegin und zwei Kollegen zusammen spielen, ein Klavierquartett von Johannes Brahms – allerdings nur für ein virtuelles Publikum. Seit einigen Monaten bietet die Oper Frankfurt unter dem Titel „Oper Frankfurt Zuhause“ freitagsabends kostenlose Livestreams an. Gerade stand zum ersten Mal ein Kammerkonzert mit Mitgliedern des Orchesters auf dem Online-Programm. „Das war schon aufregend, wenn man live spielt und die ganze Welt kann einem zusehen, aber man selbst sieht nur die Kameraleute“, erzählt Regine Schmitt. Die Oper betreibe für das virtuelle Angebot einen enormen Aufwand. Streams mit dem Orchester seien ebenfalls geplant. Wie diese aussehen, in welcher Besetzung sie überhaupt möglich sind, das könne aber nur kurzfristig festgelegt werden.
Über Grenzen hinweg
Sebastian Weigle ist dann auch wieder zurück in Frankfurt. Seit Dezember verbrachte er drei Monate in Japan, wo er mit dem Yomiuri Nippon Symphony Orchestra arbeitete, dessen Chefdirigent er seit 2019 ebenfalls ist. Das Land gehe etwas anders und mutiger mit der Pandemie um. „Es wird hier als lebensrelevant eingeschätzt, Kultur zu erleben.“ So konnte Weigle einige Konzerte dirigieren, Tschaikowski, Bruckner und die Neunte Sinfonie von Beethoven sogar mit Chor. „Allesamt riesengroß, und das Publikum sitzt mit Maske und applaudiert kräftigst, aber ohne dieses starke Ausrufen von Beifallskundgebungen. Sie heben stattdessen Transparente, auf die sie ihre Gefühle draufgeschrieben haben und klatschen entsprechend länger“, berichtet der Dirigent. Danach werde der Saal langsam Reihe für Reihe geleert, „beispielhaft, grandios, in einer Ruhe und Gelassenheit.“
Dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester bleibt bisher nur das virtuelle Konzert. Das allerdings hat den Vorteil, dass es über alle Grenzen hinweg möglich ist. So haben die Musiker im Sommer gemeinsam mit den Kollegen des Yomiuri Nippon Symphony Orchestra aus Tokio das Vorspiel zu Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ gespielt. Jeder Musiker hat dafür aus seinen eigenen vier Wänden ein Video aufgenommen. Die Einzelaufnahmen wurden im Studio zusammengefügt. „Damit man Hunderte Aufnahmen zu einem Stück zusammenschneiden kann, müssen alle Musiker exakt auf der gleichen Tonhöhe sein, dasselbe Tempo und dieselbe musikalische Interpretation spielen. Dass am Schluss ein Stück mit allen Stimmen, die in der Partitur stehen, rauskommt, ist ein technisch wirklich enorm hoher Aufwand, der sehr viel Geschick erfordert“, erläutert Regine Schmitt.
Das Ergebnis ist auf YouTube unter dem Stichwort „Frankfurter Opern- und Museumsorchester“ ebenso zu finden, wie ein weiteres Projekt, das gemeinsam mit Eintracht Frankfurt entstand. Dafür spielten die Musiker wieder einzeln Zuhause die „Eintracht am Main-Hymne“ ein und betätigten sich dabei sogar noch in unterschiedlichen Sportarten. Mehrere zehntausend Aufrufe habe das Video bereits. Es brachte nicht nur das Orchester in die Köpfe der Frankfurter zurück: „Wir wurden auch dazu gezwungen, uns in dieser Zeit technisch weiterzuentwickeln“, stellt Regine Schmitt fest. Das habe für die Zukunft positive Aspekte.
Vorreiterrolle in der Kultur
Die Corona-Krise hat der Digitalisierung in der Kulturbranche insgesamt einen Schub gegeben – es gibt immer mehr virtuelle Angebote, nicht nur in der Musik. „Digitale Formate können vielen Menschen gerade jetzt in der Pandemie den Zugang zu Kulturgütern erleichtern oder neu eröffnen, weil sie unabhängig von Zeit und Raum zugänglich sind“, stellte die hessische Kunst- und Kulturministerin Angela Dorn kürzlich fest.
Während musikalische Institutionen während der Corona-Krise kurzfristig Möglichkeiten für Livestreams entwickeln mussten, beschäftigen sich die Frankfurter Museen schon seit Längerem mit diesem Thema, wie die Digitalstrategien beweisen, die das Historische Museum und das Jüdische Museum bereits vor deren Wiedereröffnung in 2017 bzw. 2020 erarbeitet hatten. „Das Thema war uns schon lange bewusst. Jetzt haben wir eine Vorreiterrolle unter den Kultureinrichtungen“, stellt die Frankfurter Kulturdezernentin Ina Hartwig fest, die es sich zum Ziel gesetzt hat, dass alle städtischen Sammlungsbestände möglichst bald digital zugänglich gemacht werden sollen. Dafür will sie sich für eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der Museen einsetzen.
Virtueller Stadtführer
„Wie die Museen sich aufstellen, entscheidet derzeit über ihre Relevanz“, betont Miriam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums, das sich heute schon als „postdigitales“ Haus versteht, in dem digitale Nutzungen integrierter Bestandteil des Museums sind. Das gilt nicht nur für die Besucher vor Ort. Auch die Angebote, die Inhalte vom heimischen Sofa aus kennenzulernen, sind groß. „Wir bieten wöchentlich derzeit zwei bis drei digitale Veranstaltungen an und kommunizieren mit rund 30.000 Menschen“, erläutert Wenzel. Das sei das Zehnfache der Besucherzahlen, mit denen sie physisch rechne.
Neben den Veranstaltungen, bei denen im Dezember beispielsweise der Pianist Igor Levit und der Publizist Michel Friedman zu Gast waren, gibt es auf der Internetseite des Museums umfangreiche Online-Ausstellungen wie jene zur Familiengeschichte von Anne Frank mit vielen privaten Fotografien, eine, die in das Museum Judengasse führt und viele dortige Ausstellungsstücke präsentiert sowie eine weitere zum Künstler Ludwig Meidner. Um ihn und sein Werk kennenzulernen, kann man sich nach einer Einführung zu unterschiedlichen Stichpunkten jeweils durch eine kleine Bilderausstellung klicken, sie sich groß anzeigen lassen und immer wieder Informationen dazu erhalten. Auf diese Weise begleitet man Meidner von seinem Frühwerk bis in die Nachkriegszeit, sieht Briefe und Zeichnungen, in denen er sein Exil und die Gräuel des Holocaust verarbeitet.
Wer sich lieber vom Sofa wegbewegen möchte, kann die Online-Angebote sogar bei einem Spaziergang durch die Stadt nutzen. So hat das Museum in Kooperation mit dem Historischen Museum Frankfurt eine App unter dem Titel „Unsichtbare Orte“ entwickelt, die den Nutzer wie ein virtueller Stadtführer an die Orte führt, die an die Geschichte Frankfurts nach 1945 erinnern und die Vielfalt der Stadt zeigen. Im Mittelpunkt stehen Erzählungen von Migrantinnen und Migranten in Frankfurt. Man entdeckt dabei etwa in Zeilsheim die Geschichte von jüdischen Fußball-Clubs, griechische Pelzhändler im Bahnhofsviertel oder türkische Restaurants im Ostend. Die App ist kostenlos auf der Internetseite des Museums herunterzuladen. Über Instagram lassen sich an Ort und Stelle zudem eigene Fotos und Stories in die App laden und mit anderen Nutzern teilen.
Neugierde wecken
Eine stärkere Interaktion mit Nutzern verspricht sich auch das Historische Museum von seinen neuen Angeboten. „Wir wollen damit die Vielstimmigkeit in unserer Arbeit erhöhen“, stellt sein Direktor Jan Gerchow fest. Neben Online-Führungen und -Veranstaltungen, der Datenbank der Sammlung sowie digitalen Ausstellungen, wie etwa der zu 100 Jahren Frauenwahlrecht, bietet das Museum daher unter anderem im digitalen Stadtlabor die Möglichkeit, sich mit eigenen hochgeladenen Beiträgen zu beteiligen. Damit entstehe eine subjektive Sammlung digitaler Objekte, betont Gerchow und gibt noch einen Ausblick: „Wir entwickeln außerdem gerade Online-Besuche und -Führungen in 3D. Eine Lehre aus der Corona-Pandemie ist, dass digitale Vermittlungsangebote immer wichtiger werden.“
Dass die Museumsbesucher künftig die Angebote nur noch vom Sofa aus nutzen und den Museen fernbleiben, befürchtet seine Kollegin Miriam Wenzel nicht. „Wir haben die Erfahrung gemacht, alles, was man digital gesehen hat, weckt die Neugierde auf das Original.“ Darauf hoffen auch andere Institutionen, die den Kulturgenuss derzeit digital in heimische Wohnzimmer bringen. Das Ensemble Modern etwa bietet seine Happy-New-Ears-Konzerte im Livestream an. Der Jazzkeller streamt regelmäßig Konzerte, das Schauspiel Frankfurt bietet Kurzfilme, Probenmitschnitte und Live-Übertragungen und die vor der Pandemie gerade erst eröffnete Volksbühne im Großen Hirschgraben hat passenderweise eine Online-Trilogie auf YouTube gestellt, unter dem Titel „Sinnlose Gespräche in einem nutzlosen Theater“.
Streaming sei kein Ersatz für das Live-Erlebnis, betont auch Generalmusikdirektor Sebastian Weigle. „Wir vermissen unser Publikum schrecklich und ich denke, das geht dem Publikum nicht anders. Wir sind bereit, wir wollen!!!“, schreibt er weiter. Regine Schmitt räumtein, dass, je länger der Lockdown dauere, bei den Musikern die Befürchtungen wachsen: „Gewöhnen wir gerade der Gesellschaft die Kultur ab? Digitale Medien helfen, aber ich glaube, der Mensch braucht, um gesund zu bleiben, Musik und Kultur als Ventil“, sagt die Geigerin. Im Moment traue sich aber niemand, irgendeine Veranstaltung zu planen, nicht einmal für das kommende Jahr.
Die Musiker des Orchesters haben dagegen bereits seit Dezember ein Konzept in der Schublade und warten nur darauf, wieder live spielen zu dürfen. Unter dem Motto „Mahnwache. Musikkultur live“ wollen sie jeden Dienstag, mittags von 13.15 bis 14 Uhr, in der Katharinenkirche in kleinen Ensembles auftreten. Andere Orchester in Hessen, etwa in Kassel oder Gießen, wollen das Konzept übernehmen und es genauso machen. Jeder soll dort – unter entsprechenden Hygieneregeln – kostenlos Musik erleben können. „Wir wollen zeigen, dass Musik auch weiterhin mitten im Leben ihren Platz hat“, sagt Regine Schmitt.
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