Im Jüdischen Museum gibt es nach der Neueröffnung viel zu entdecken. Nach fünf Jahren Bauzeit hat das Haus die Türen seines Neubaus und des sanierten Rothschild-Palais für die Besucherinnen und Besucher geöffnet.
Ein kleines Wunder ist zu besichtigen, eine Museumssensation, ein weiterer Anziehungspunkt in der Frankfurter Kulturlandschaft. Das neu eröffnete Jüdische Museum zwischen Mainufer und Schauspielhaus bereichert die Stadt um eine architektonische und kulturelle Attraktion. Nach der Eröffnung im vergangenen Jahr standen die Menschen Schlange bis zur Oper. Dann kam die coronabedingte Schließung. Sobald das Haus wieder öffnet, sollte man sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Man kann hier viel lernen. Und man darf staunen über die technischen Mittel, mit denen moderne Museen heute ihre Besucher auch spielerisch erreichen.
Bis das Museum wieder komplett öffnet, ist jeder als digitaler Gast willkommen, 24 Stunden am Tag. Unter www.sammlung.juedischesmuseum.de finden sich schon heute zahlreiche Exponate aus den beiden Dauerausstellungen mit Begleittexten. Eines Tages sollen sämtliche Sammlungsstücke online zugänglich sein. Zur Digitalstrategie gehört natürlich auch die Präsenz bei Facebook, Instagram, YouTube und Twitter. Wer sich in vier Minuten und 15 Sekunden einen Überblick über das neue, alte Museum verschaffen will, gibt bei YouTube „Jüdisches Museum Rundgang“ ein und wird dann von der Chefkuratorin Sabine Kößling sehr informativ durch die Dauerausstellung geführt.
Beginnen wir die Bekanntschaft mit dem ältesten kommunalen jüdischen Museum Deutschlands in dem neuen Anbau. Der Eingang befindet sich in der Hofstraße, schräg gegenüber vom Eingang zu den Kammerspielen des Schauspiels. Der großzügige Innenhof wartet gleich mit einem verstörend spektakulären Kunstwerk auf. Ein aus Aluminium gegossener Baum reckt sich in die Höhe. Doch in seinen Ästen steckt kopfüber ein anderer Baum, der seine Wurzeln in die Luft streckt. Das auf den ersten Blick anrührende Kunstwerk arbeitet mit zahlreichen, auch biblischen Anspielungen. Die Skulptur des jungen israelischen Künstlers Ariel Schlesinger ist meist gedeutet worden als die gleichzeitige Verwurzelung und Entwurzelung der Juden in Deutschland und in Frankfurt – die Mainmetropole war vor dem Holocaust eines der Zentren jüdischen Lebens in Europa.
Was erwartet den Besucher im Neubau? Zunächst einmal beeindruckt die architektonische Sprache der Leichtigkeit, die dem Team des Berliner Büros von Volker Staab gelang. „Lichtbau“ heißt der Neubau nicht nur wegen des hohen, lichtdurchfluteten Atriums in der Erdgeschosshalle, sondern auch wegen der vielen riesigen Fenster und der durchlässigen Raumfolge. Der Neubau birgt einen Vortragsraum, eine große Fläche für Sonderausstellungen (derzeit über die weibliche Seite Gottes), eine gut sortierte Buchhandlung mit Titeln rund um jüdisches Leben und ein hübsches Deli mit koscheren Speisen. Auch dieses Deli ist freundlich wie ein Café eingerichtet, eine Art stylishes Wohnzimmer. Erhellt wird es durch raumhohe Fenster mit Durchblick zum Vorplatz.
Nicht zuletzt findet sich im Neubau die öffentlich zugängliche Bibliothek, spezialisiert auf Fachliteratur über jüdische Kultur, Geschichte und Religion. Herzlich willkommen sind hier auch die Kinder. Auf sie warten zahlreiche Comics, Romane und Graphic Novels zu jüdischen Themen. Bibliothek, Buchhandlung und das Deli für „Essen to go“ standen übrigens auch während des Lockdowns dienstags bis freitags von 11 bis 15 Uhr offen.
Offenheit ist überhaupt einer der Schlüsselbegriffe, die dieses Ensemble aus Alt und Neu definieren. Sie drückt sich nicht nur in der Architektur mit ihrer lichten Transparenz aus, sondern auch in dem unbedingten Willen, in die Öffentlichkeit hinein zu wirken. Und das nicht nur mit den klassischen musealen Mitteln der Präsentation interessanter Schaustücke, sondern in der Leidenschaft der Vermittlung. Konferenzen, Diskussionen, Konzerte und Führungen richten sich an das Fachpublikum wie die Allgemeinheit; Kindern ist ein eigenes Programm gewidmet. Der Frankfurter Publizist Michel Friedman wird Gastgeber einer Gesprächsreihe sein, in der er unter dem Rubrum „Denken ohne Geländer“ mit Justizministerin Christine Lambrecht spricht oder mit dem Pianisten Igor Levit, der eine klare Position gegen Antisemitismus einnimmt. Auch das sonstige Programm an Fachtagungen, Panels und Publikumsveranstaltungen liest sich ambitioniert – gleichgültig, ob es in den kommenden Monaten real oder virtuell stattfinden kann. Eine wichtige Frage bleibt dabei, welche Methoden der Bildungsarbeit nachhaltige Wirkung gegen Judenhass und Menschenfeindlichkeit entfalten können.
Wobei eine der wirksamsten Maßnahmen vielleicht einfach ein Besuch dieses Jüdischen Museums mit seiner Dauerausstellung ist. Der Besucher startet mit seinem Rundgang am besten im obersten Geschoss des älteren Teils. Das ist das ehemalige Wohnhaus der Familie Rothschild, 1821 am Untermainkai errichtet. Hier wurde am 9. November 1988 durch Bundeskanzler Helmut Kohl das Jüdische Museum eröffnet. Es war seither in die Jahre gekommen und strahlt jetzt in einem solchen Glanz, dass es kaum wiederzuerkennen ist.
Wer also den Rundgang im dritten Stock beginnt, begegnet dem jüdischen Leben in der Frankfurter Gegenwart. Hier, wie auch an vielen anderen Stellen im Museum, folgt die Präsentation dem Prinzip „Geschichte durch Geschichten“. Die zweite Etage ist „Tradition und Ritual“ gewidmet, der jüdischen Religionsausübung, ihrer Zeremonialkunst und ihrer Kultgegenstände. Der Besucher sieht sich auf einem Monitor konfrontiert mit vier Rabbis und einer Rabbinerin. Auf einem Touchpad kann er Fragen antippen, die ihm die fünf Glaubensspezialisten beantworten. Zum Beispiel „Was ist jüdisch?“, „Was ist der Schabbat?“ oder „Wann kommt der Messias?“ Dann antworten die Geistlichen, und die Antworten fallen meist recht unterschiedlich aus. Weil Judentum nicht gleich Judentum ist, weil sich orthodoxe und liberale Glaubensrichtungen und Lebensauffassungen stark unterscheiden.
Unverändert dagegen ist die starke Rolle der Familie im jüdischen Leben. Diesem Thema widmet sich die Dauerausstellung im ersten Stock. Sie zeichnet in zahlreichen Vitrinen, auf Gemälden und mithilfe konkreter Gegenstände die Geschichten der Franks, Sengers und Rothschilds nach – drei exemplarischen Frankfurter Familien aus sehr unterschiedlichen Zeiten. Die Rothschilds verkörpern den Aufstieg aus der Judengasse in die großbürgerliche Emanzipation. Valentin Senger und seine aus Russland stammende Familie waren als Kommunisten und Juden in der NS-Zeit doppelt bedroht. Sie überlebten mit falschen Papieren, Senger hat dieses Abenteuer in seinem Buch „Kaiserhofstraße 12“ packend geschildert.
Dass die Geschichte der Kaufmannsfamilie Frank mit so vielen Original-Exponaten belegt werden kann, liegt an Buddy Elias. Er war der Cousin von Anne Frank, deren Tagebuch aus dem Amsterdamer Versteck Millionen von Menschen tief berührte. Buddy Elias und seine Frau Gerti hatten in ihrem Haus in Basel Tausende Gegenstände, Briefe und Fotos gesammelt, die nun in der Ausstellung vor allem die Bildungsbeflissenheit dieser jüdischen Familie dokumentieren. Möbel, Silber, Porzellan und Bücher belegen ein behaglich-wohlhabendes Lebensgefühl, aus dem die Franks durch den Rassenwahn jäh herausgerissen wurden. Im Amsterdamer Hinterhaus notiert Anne Frank am 23. Februar 1944: „Solange Du furchtlos den Himmel anschauen kannst, so lange weißt Du, dass Du rein bist von innen und dass Du doch wieder glücklich werden kannst.“ Ein Jahr später wurde sie im KZ Bergen-Belsen ermordet.
Es gibt noch viel mehr zu entdecken im Rothschildpalais und im Neubau. Als Erstbesucher sollte man sich vielleicht einen groben Überblick verschaffen, um danach wiederzukommen und sich in einzelne Aspekte zu vertiefen. Es gibt viel auf kleinen und größeren Filmsequenzen anzuschauen und per Knopfdruck abzuhören, auch Zeugenaussagen beim Frankfurter Auschwitz-Prozess aus den 60er-Jahren oder O-Töne aus dem Protest gegen die Aufführung des Fassbinderstücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ 1985, als sich die Juden gegen das als antisemitisch empfundene Drama wehrten und dabei viele nichtjüdische Verbündete fanden.
Dieses Aufbegehren spielte eine wichtige Rolle im Selbstverständnis der Frankfurter Juden. Sie bezogen aus der Wirksamkeit ihres Protests den Mut, sich auch künftig selbstbewusst zu Wort zu melden. Ausdruck neuer Zuversicht war ein Jahr später der Bau des Gemeindezentrums im Westend. Architekt Salomon Korn fand damals das bis heute treffende Wort: „Wer ein Haus baut, will bleiben.“ Das Museum spiegelt in der Dauerausstellung aber auch die Zweifel derer, die nach dem Massenmord lange auf gepackten Koffern saßen und immer wieder an Auswanderung nach Amerika oder Israel dachten, begleitet von schlechtem Gewissen.
Ja, es gibt viel zu lernen, zu entdecken oder wiederzufinden in diesem Museum, das seine Exponate so appetitanregend präsentiert. Gespart worden ist nicht, alles ist geprägt von einem feinen Glanz, ohne freilich Protz zu entfalten. Es hilft diesem Haus natürlich, dass es getragen wird von einem politischen Willen.
Doch nicht nur die politische Unterstützung ist breit, sondern auch die gesellschaftliche. Der Förderkreis rund um den ehemaligen Oberbürgermeister Andreas von Schoeler hat engagiert dazu beigetragen, dass seit 2009 Privatleute und Unternehmen rund sechs Millionen Euro dem Jüdischen Museum zur Verfügung stellten. Zugute kommt dem Haus auch, dass seine Direktorin Prof. Dr. Mirjam Wenzel als Sympathieträgerin Zugang zu den Entscheidungsträgern und Medien findet. Wenzel fühlte sich außerordentlich geehrt, als der damalige Kulturdezernent Felix Semmelroth ihr die Aufgabe antrug. Seither brennt die gebürtige Frankfurterin für ihr Projekt. Wenn sie jemanden durch das Museum führt, kann sie kaum ein Ende finden, so begeistert berichtet sie über das Haus und dessen Schätze.
Man tut der Direktorin und ihren hoch engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wahrscheinlich keinen größeren Gefallen, als dieses schöne, spannende, alte, neue, begeisternde Museum zu besuchen. Es wird nicht beim ersten Mal bleiben.
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