Der Körper als Kunstwerk, die Haut als Leinwand. Jeder vierte Deutsche ist heute tätowiert. Tattoos haben sich zum Massenphänomen über alle Einkommens-, Bildungs- und Gesellschaftsschichten hinweg entwickelt. Ursprünglich kommen sie aus Polynesien: Das Wort „tatau“ ist aus dem Tahitianischen, bedeutet „eine Wunde schlagen“. Ja, tätowieren tut weh – und trotzdem lassen sich immer mehr Menschen unvergängliche Kunstwerke auf ihren Körper stechen. Wir haben mit Frankfurtern gesprochen, deren Tattoos und ihre Beweggründe dazu so unterschiedlich sind wie sie selbst. Erstaunlich: Am Tattoo-Boom der letzten zwei Jahrzehnte hat die Messe Frankfurt erheblichen Anteil. Text: Kitti Pohl, Fotos: Anna Scheidemann, Styling: Natasha Gridina
„Grey Is The New Pink“ war der Titel einer Ausstellung im Museum für Weltkulturen, in der kürzlich Fotografien tätowierter älterer Männer und Frauen vom Westpazifik bis Neuguinea zu sehen waren. In diesen Kulturen gelten Tattoos seit Urzeiten als Zeichen von Zugehörigkeit, sind Ausdruck des Werdens und des Seins, schaffen Identität. Im 18. Jahrhundert haben englische Seeleute die Tätowier-Kultur nach Europa gebracht. Bis vor 30 Jahren waren Tattoos verpönt, ein Stigma von zwielichtigen Typen wie Verbrechern, Rockern und Seeleuten. Erst seit den 1990ern sind sie in der westlichen Welt als Körperschmuck und individuelles Ausdrucksmittel angekommen.
700 internationale Spitzen-Tätowierer kamen im April zur 27. Tattoo Convention nach Frankfurt. Rekord, wieder einmal. Als Tattoo-Studio-Besitzer Thomas „Tommy“ Köhler das Event 1993 erstmals veranstaltete, waren es gerade mal 40. Eine Handvoll Tätowierer aus ganz Deutschland hatte damals beschlossen, Tattoos aus der Schmuddelecke zu holen. Köhler: „1993 gab es erstmals Conventions in mehreren Städten. Bei uns in Frankfurt schlug sie ein wie eine Bombe. Wir konnten gar nicht so schnell Interviews geben, wie die Presse danach fragte!“ „Hans Meiser“ und „Vera am Mittag“ berichteten.
Tattoos wurden erstmals nicht als etwas Anrüchiges, sondern als Körperkunst gezeigt – direkt von der Frankfurter Messe. Köhler lacht: „Damals war nur jeder 50te Messebesucher tätowiert. Die Leute sind staunend durch die Halle gelaufen, haben aus sicherem Abstand geguckt. Viele dachten, beim Tätowieren spritzt Blut! Heute bin ich der dienstälteste Messe-Kunde in Frankfurt. Die Chefs der IAA oder der Buchmesse haben gewechselt, ich nicht,“ sagt er nicht ohne Stolz und betont mehrmals, dass die Frankfurter Messe ihn immer unterstützt hat. Aus gesundheitlichen Gründen muss er die Leitung der Convention nächstes Jahr abgeben, bleibt jedoch beratend im Hintergrund.
„Handtätowierer aus Samoa und Polynesien klopfen mit einem Hölzchen Nadeln und Knochen rhythmisch in die Haut.“ – Tommy Köhler, Tattoo-Convention-Gründer
7.000 bis 8.000 Besucher kommen jährlich zur Messe, ein kunterbuntes Völkchen, in dem heute eher auffällt, wer nicht tätowiert ist. Die Freaks, Punks und Tattoo-Models mischen sich in der Messehalle 5 mit den Bankern, Anwälten und Managern. Hier präsentieren auch diejenigen bunte Haut, die sie im Job lieber verdecken. Man kann Star-Tätowierer aus Samoa, New York oder China an seiner Haut arbeiten lassen, die meisten sind in Frankfurt auf Jahre ausgebucht.
Buch-Tipp
- Friedman, Anna Felicity (Author)
Viele Besucher kommen nur zum Gucken und Staunen: mit welcher Präzision und Fingerspitzengefühl die Künstler hochkonzentriert ihre „Tattoo-Gun“, die Tätowiermaschine, betätigen. Wie Handtätowierer aus China, Neuseeland und Polynesien, oft nur mit einem Lendenschurz bekleidet, mit einem Hölzchen Nadeln und Knochen rhythmisch in die Haut einklopfen. Und wie geduldig und mit schmerzverzerrten Gesichtern Menschen stundenlang stillhalten, um sich ein Kunstwerk auf ihren Körper stechen zu lassen.
Die Tätowierer-Legende
Auge ist Frankfurts bekanntester Tätowierer. Markenzeichen: ein Auge, das auf seiner Glatze mittig über dem Nacken platziert ist. Mit 12 hat er sich die Tattoo-Kunst selbst beigebracht und seitdem autodidaktisch weiterentwickelt. Seit 36 Jahren betreibt der Mann, in dessen Pass tatsächlich der Künstlername „Auge Hochrein“ steht, sein Studio „Auge Tattoos“ in Bornheim.
Tausende Körper hat er in seinem Leben an allen nur möglichen Stellen verziert. Tattoos, sagt Auge, sind Geschmackssache. Trends kommen und gehen. „Viele Kunden wissen genau, welches Motiv sie in welchem Stil wohin haben möchten. Ich sage was realisierbar ist, verändere, erweitere, zeichne, mache Vorschläge.“ Andere blättern stundenlang in Vorlagen-Mappen oder lassen sich immer neue Entwürfe zeichnen, bis sie sich entscheiden.
Als Künstler sieht Auge sich nur bedingt: „Tätowierer, die ihren eigenen Stil entwickelt haben und nur eigene Motive stechen, sind für mich Künstler. Ich bin ein Allrounder.“ Seit dem Pokalsieg letztes Jahr sticht er ohne Ende Eintracht-Tattoos: vom Adler über den Pott bis zu Frankfurt-Fahnen und Schriftzügen – jedes Motiv individuell an den Kunden oder die Kundin angepasst. Als Künstler werden Tätowierer nur in Ausnahmefällen anerkannt. Sie gelten als Kunsthandwerker, sind steuerrechtlich Dienstleister. Nachwuchs-Tätowierer lernen fünf Jahre bei Auge. Tätowierer ist kein Lehrberuf, obwohl es viele gibt, die als Meister ihres Fachs gelten.
Der Yakuza-Banker
Roman G. Trageiser ist vier, als ihn eine Meerjungfrau vom Unterarm eines fremden Mannes anzwinkert. „Das fand ich irre schön, aufregend, interessant. Sowas wollte ich auch!“ Mit Anfang 20 lässt der Banker sich sein erstes Tattoo stechen: einen Skorpion auf dem rechten Schulterblatt. Ende des Jahres, wenn er 50 ist, soll sein Bodysuit nach Vorbild der japanischen Halbwelt-Organisation Yakuza fertig sein. Es fehlt lediglich noch der linke Unterschenkel. Ein Komplett-Tattoo. Nur Gesicht, Hals, Hände und Füße bleiben frei.
„Die Tattoos müssen eine Gesamt-Komposition sein, der individuelle Stil des Künstlers soll zur Geltung kommen.“ – Roman Trageiser, Banker
Götter und Fabelwesen, Krieger und Schwerter, Blüten und Tiere winden und verschlingen sich zwischen den Waden und Schultern des Mannes zu einem imposanten Kunstwerk. „Symbole aus der japanischen Mythologie. Sie sind ästhetisch und haben eine Bedeutung, das ist mir wichtig“, erklärt er. Fudo Myôô, der Höllenwächter, auf dem Bein. Ein Koi, Symbol für Glück, auf dem Bizeps. Raijin, Gott des Donners, auf der Brust, Das zentrale „Backpiece“: eine Maske auf dem Rücken, von Auge gestochen.
Buch-Tipp
- Aitken-Smith, Trent (Author)
Auf Bauch, Brust, Armen und Beinen hat Hammer sich ausgetobt, Auges Tattoo-Kollege. Tätowierer sind Künstler und Vertrauensperson in einem, sagt Trageiser: „Die Motive müssen zueinander und zur Körperstelle passen, eine Gesamt-Komposition sein. Der individuelle Stil des Künstlers soll dabei auch zur Geltung kommen.“ Sein Skorpion ist längst „gecovert“ (überstochen), mit einem Drachen. Der steht in Japan für Macht, Güte und Intelligenz.
Trageiser stieg, während seine Haut immer bunter wurde, zum Direktor bei der Commerzbank auf. Immer darauf bedacht, seine Tätowierungen zu verdecken. „Obwohl die gesellschaftliche Akzeptanz von Tattoos größer wird, bist du in der Bank damit ein Exot. Die Anzuggrenze ist im Finanzbusiness ein Muss, bei Frauen die T-Shirt-Grenze,“ sagt Trageiser, der heute als Unternehmensberater und Coach arbeitet. „Als junger Banker bin ich bei Sales-Schulungen in Hotels nie mit in den Wellness-Bereich gegangen. Dann wäre ich verbrannt gewesen.“
Der Körper als Konzept-Kunst
Eine Hand, die einen Liebesbrief hält, dazu das Wort „Unconditional“, auf dem rechten Unterarm. „Damit jeder, dem ich die Hand gebe, sofort sieht, dass echte Freundschaft und Liebe für mich bedingungslos ist“, sagt Sophie McGregor. Für die Einzelhandelskauffrau sind Tattoos Selbstdarstellung und Ausdruck ihrer Persönlichkeit.
Auf dem linken Beckenknochen huldigt die Halbbritin mit einer Tasse samt Teebeutel ihrer Liebe zum Teetrinken. Der Vintage-Parfumflakon auf dem rechten Oberschenkel ist eine Hommage an ihren Job. Sie arbeitet als Stilberaterin und Make-Up-Artist im Luxussegment: „Meine Kundinnen finden die Tattoos interessant, viele fragen mich danach. Sofern es keine politisch radikalen, anstößigen oder makabren Motive sind, finde ich Tätowierungen absolut gesellschaftsfähig.“
„Meine Tattoos sind Selbstdarstellung und Ausdruck meiner Persönlichkeit.“ – Sophie McGregor, Stilberaterin
Sophie lässt sich von verschiedenen Künstlern inspirieren und arbeitet nach Konzept. Ihr Ziel: ein Ganzkörperkunstwerk, das ihre Persönlichkeit in allen Facetten zeigt. „Im Moment des Tätowierens fange ich mein Gefühl ein. Das Leben in seiner Diversität hat helle und dunkle Seiten.“
Ihren rechten Arm, den Glücksarm, zieren unter anderem Hasenpfote, Wünschelrute, Wunderlampe und eine Katze mit Zylinder. Auf dem linken Arm schwarze, okkulte Motive, ihre düstere Seite: eine Wahrsagerin, ein Ouija-Brett zum Gläserrücken. Eine Fledermaus, Tarot-Karte oder Hexenkräuter sind im Oktober geplant. „Irgendwann werde ich beide Stränge, Gut und Böse, auf meiner Brust zusammenführen. Tattoos bedeuten für mich Freiheit. Sie zeigen auf ästhetische Weise, dass ich ein Individuum bin.“
Buch des Lebens
Zwei Boxer fighten auf dem Oberschenkel von David Ardinast. Sie stehen für Bruderliebe und Bruderkampf. „Egal, wie hart es kommt, egal, was passiert: Wir halten zusammen“, sagt David, der mit seinem Bruder James die Restaurants Bar Shuka, Maxie Eisen und Stanley Diamond betreibt. Ihre Tattoos gehören zu den Unternehmer-Brüdern wie ihre hippen, stylishen Klamotten: Prägende Geschichten, besondere Ereignisse und wichtige Menschen sind auf Armen, Brust, Rücken, Bauch und Beinen verewigt. Die Tattoos der Ardinasts sind das Buch ihres Lebens.
James: “Ich habe mich immer nach intensiven Lebensphasen tätowieren lassen. Durch den Schmerz kriegst du den Kopf frei, fasst das Geschehene zusammen.“ „Fuckk“ (mit zwei k) im Nacken entstand nach seiner Scheidung. Das Auge seines jüngerem Sohnes auf dem Rücken, das des älteren auf der Brust: „Einer schaut für mich nach vorne, der andere deckt meinen Rücken.“ Auf dem linken Arm trägt James einen Panther für Geschicklichkeit, Eleganz und Intelligenz. Und einen Schlüssel, „weil es immer einen Ausweg gibt“.
„Mit jedem Tattoo verinnerlichen wir einen intensiven Lebensabschnitt, prägende Ereignisse und wichtige Menschen.“ – James und David Ardinast, Unternehmer
„Mit jedem Tattoo verinnerliche ich einen wichtigen Teil meines Lebens“, sagt David Ardinast. „I love You Mom“ für die geliebte Mutter Toni auf dem linken Arm. Bedingungslose Vaterliebe und Fürsorge für Sohn Seven: Sieben ineinander verschlungene Elemente, die das Wachstum vom Samen bis zur vollen Pracht des Lebens darstellen. Sevens Sternzeichen, ein Löwe, auf der Brust, dahinter John und Dean, die Söhne von James: „Weil die drei Jungs immer füreinander da sind.“ David: „Als mein Sohn sehr klein war, hat er ein Herz gemalt. Mit diesem Bild bin ich zum Tätowierer. Er hat es mir auf die Hand gestochen. Eines meiner Lieblings-Tattoos.“ Ihre zahlreichen Tattoos verdecken die Ardinast-Brüder übrigens nirgends – außer in der Synagoge.
Die Haut als Leinwand
Tanja Lewald sieht aus, als hätte ein Aquarell-Maler spielerisch und zart den Pinsel auf ihrem Oberkörper geschwungen. Die anmutige Komposition aus Magnolien, Blütenblättern und Poesie hat die Tattoo-Künstlerin Minervas Linda jedoch mit präziser Nadel gestochen. Jahrzehntelang hatte Tanja einen Tätowierer gesucht, der ihre Wünsche und Vorstellungen umsetzen kann und schließlich in Berlin gefunden. Erst mit Mitte 40 war es soweit, surrte erstmals eine Tattoo-Nadel auf Tanjas Haut. Drei Jahre und sechs Tattoo-Sitzungen später sind ihr Rücken, Po und Intimbereich nahezu komplett im derzeit angesagten „Watercolors“-Stil bedeckt, heißt: ohne kräftige „Outlines“, jenen schwarzen Linien, die einem klassischen Tattoo die unveränderbare Form geben.
„Ich lege großen Wert darauf, dass sich meine Tattoos den weiblichen Formen anpassen.“ – Tanja Lewald, Produktmanagerin
„Ein Tattoo ist Schmuck, den man sein Leben lang trägt. Deshalb muss es perfekt und persönlich sein“, sagt Tanja. „Der Magnolienbaum blühte vorm Fenster, als meine Oma starb. Meine Haut wird mich immer an sie erinnern.“ Die Sehnsucht nach Menschen, mit denen sie nicht mehr in Kontakt stehen kann, ob tot oder lebendig, trägt sie auf dem rechten Schulterblatt: „Wahre Liebe ist jene, die sogar Stille überdauert“, steht da in geschwungener, lässiger Handschrift.
Tanja trägt gerne Kleider mit Rückenausschnitt, auch auf Messen und im Job als Produktmanagerin bei primacos in Bad Soden. Interessierte Blicke empfindet sie als Kompliment. Das Kunstwerk auf ihrem Körper wird weiterwachsen. Nur Dekolleté, Arme und Beine bleiben frei. „Ich möchte selbst bestimmen, wann man meine Tattoos sieht und wann nicht, weil es mich je nach Outfit und Anlass auch mal stören könnte“, erklärt Tanja. Und, ganz wichtig: „Ich lege großen Wert darauf, dass sich meine Tattoos den weiblichen Formen anpassen.“
Der Erfinder der Frankfurter Tattoo-Convention, Tommy Köhler aus Nidda, ist übrigens gerade vom Fachmagazin Tattoo-Spirit in die weltweite „Hall Of Fame“ der Tätowierer aufgenommen worden, als 14. Mitglied überhaupt. Begründung: Köhler habe mit seinen besonderen Verdiensten um die Entwicklung der Tattoo-Kunst Geschichte geschrieben.
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