Aber sonst ist der ehemalige Ministerpräsident Volker Bouffier ganz gelassen im Ruhestand angekommen. Porträt eines Mannes, der in sich zu ruhen scheint. Von Peter Lückemeier und Helmut Fricke (Fotos)
Volker Bouffier erscheint in Begleitung von zwei Sicherheitsmännern pünktlich um 15 Uhr am vereinbaren Treffpunkt, dem Restaurant Benner’s im Wiesbadener Kurhaus. Er trägt Anzug mit Hemd, keine Krawatte. Beim Gang durchs Lokal grüßt er routiniert nach allen Seiten. An einem der Tische stößt er auf eine Bekannte: „So sieht man sich wieder“, Küsschen links, Küsschen rechts. Einer wie er, der so lange in der Politik ist, wird von unzähligen Menschen erkannt, angesprochen, mit Beschlag belegt, gebraucht – noch immer, ein Jahr nach seinem Rücktritt, schicken ihm die Menschen 80 bis 100 Briefe pro Woche. Einer davon hat ihn kürzlich sehr berührt, davon später.
Wir kennen uns ganz gut, seit der damalige F.A.Z.-Herausgeber Werner D’Inka und ich mit Bouffier vor sechs Jahren ein 140 Seiten langes Interview führten, das unter dem Titel „Ich will jeden Tag die Welt ein bisschen besser machen“ als Buch herauskam. Damals trafen wir uns für diese Gespräche immer im Gästehaus der Landesregierung. Der Ministerpräsident schüttelte uns dann freundlich die Hand, vertilgte mit herzhaftem Appetit die Brötchen, denn eine Mittagspause hält er für Zeitverschwendung, und begann zu sprechen, obwohl wir ihm gar keine Frage gestellt hatten. Im Verlauf von jeweils ungefähr anderthalb Stunden kamen wir bestenfalls auf sechs, sieben Fragen, so groß war sein Mitteilungsdrang.
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- Lückemeier, Peter (Author)
Das hat sich geändert. Der Ministerpräsident im Ruhestand steht heute deutlich weniger unter Strom. Noch immer redet er gern und viel und nach wie vor hört man ihm oft mit Gewinn zu. Aber er lässt sich unterbrechen, geht auf Einwände ein, er scheint stärker als früher gesprächsbereit. Wie zufrieden ist er mit seinem Nachfolger Boris Rhein? „Sehr. Ich habe ihn ja ausgesucht.“ Sagt er jedenfalls.
„Der dauernde Termindruck ist weg.“
Natürlich hat sich in seinem Leben viel geändert. „Der dauernde Termindruck ist weg“, stellt er fest und gönnt sich eine Weißweinschorle und ein Stück Himbeertarte. Daheim sitzt er jetzt manchmal auf der Terrasse seines Hauses in Gießen und freut sich am Zwitschern der Vögel. „Die haben früher auch schon gezwitschert“, hat seine Frau gesagt, „du hast es nur nicht gemerkt, weil du erst um 23 oder 24 Uhr nach Hause kamst.“ Der langjährige frühere Ministerpräsident sammelt jetzt also durchaus neue Erfahrungen. Einmal hat der Pflichtmensch und Leistungsethiker, der sich sogar nach den morgendlichen Krebsbehandlungen noch in die Staatskanzlei schleppte, tatsächlich einen Home-Office-Tag hinter sich gebracht. „Aber das kam mir ein bisschen wie Schulschwänzen vor.“
Um seine Alltagstauglichkeit braucht man sich bei dem CDU-Politiker nicht zu sorgen. Anders als dem früheren Außenminister Klaus Kinkel wäre ihm die Sache mit dem ICE bestimmt nicht passiert, als der FDP-Mann, frisch im Minister-Ruhestand, eine ganze Bahnstation weiterfahren musste: Er bekam die Tür des Zuges nicht auf, das hatte ihm zuvor immer ein Referent abgenommen. Volker Bouffier kann sogar noch Auto fahren, obwohl ihn als Innenminister und Ministerpräsident seit mehr als zwei Jahrzehnten ein Chauffeur kutschiert. Manchmal hat er sich zum Verdruss seiner Sicherheitsmänner für Privattermine hinters Steuer gesetzt und ist ihnen ausgebüxt.
Die Männer von der Security sind immer noch um ihn, zum Teil seit so vielen Jahren, dass er Gast bei ihren Kindern zur Konfirmation war. Bis zum Juni dauerte die Übergangszeit, in der Bouffier noch ein Büro in den früheren Räumen der Landeszentrale für politische Bildung, gleich neben der Staatskanzlei, unterhalten darf. Er findet diese Einjahresfrist des Abnabelns und Aufräumens hinreichend. Allerdings auch nötig, denn was gibt es nach fast zwölf Jahren als Ministerpräsident, elf Jahren als hessischer Innenminister und vier Jahren als Staatssekretär (bei Karl-Heinz Koch, dem Vater Roland Kochs, der in der Regierung Wallmann einst Justizminister war) nicht alles zu sichten, wegzuwerfen, aufzuheben oder an diverse Archive weiterzureichen: Kisten im Büro, Kisten daheim in der Einliegerwohnung, „da sieht es aus wie im Lager von Amazon“.
„Überall Kisten. In unserer Einliegerwohnung sieht es aus wie bei Amazon.“
Wann er zum Auspacken kommt, weiß der langjährige stellvertretende Vorsitzende der Bundes-CDU (2010 bis 2022) nicht. Noch immer will man mit ihm eine Vielzahl von Abschieden feiern, „was natürlich schön und auch ein bisschen angemessen ist“. Er bringt es außerdem noch auf „ein Dutzend Ämter“, namentlich nennt er den Vorsitz im Kuratorium der William G. Kerckhoff-Stiftung in Bad Nauheim, den Sitz im Verwaltungsrat der KfW-Bankengruppe und im Kuratorium der DFB-Stiftung Egidius Braun. Hinzu kommen Organisationen „von der Sterbe- zur Kinderhilfe“. Wenn jemand ihn fragt, ob er sich einer Initiative anschließt, will der lebenskluge Politiker regelmäßig wissen: „Habt ihr Krach oder braucht ihr Geld?“ Solche Fragen stellt nur, wer durch politische und menschliche Krisenphänomene aller Art gestählt ist.
Die Vielzahl von Abschiedsfeiern für ihn findet er „ein bisschen angemessen“.
Wenn Volker Bouffier heute zurückblickt auf seine Zeit in der Exekutive und auf rekordverdächtige 40 Jahre Abgeordnetentätigkeit im Hessischen Landtag (nur sein Parteifreund Frank Lortz kann ihn da übertrumpfen) – worauf ist er stolz? Das sei er früher vielleicht einmal gewesen, sagt er. Stolz, mit seiner Mannschaft MTV 1846 Gießen Deutscher Meister im Basketball geworden zu sein oder schon mit 34 zum Notar ernannt zu werden.
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- Werner D'Inka (Author)
Heute aber rede er lieber von Dankbarkeit – für seine Karriere, die es ihm ermöglichte, dieses Bundesland Hessen mitzugestalten und nicht zuletzt für eine intakte Großfamilie, für seine Frau Ursula, für Nina, stellvertretende Schulleiterin, Tochter aus erster Ehe und deren beiden Kinder, für den Sohn Volker, der als Staatsanwalt gegen das organisierte Verbrechen kämpft, für Sohn Frederik, der im Oktober für den Landtag kandidiert, allerdings nicht wie der Vater im ländlichen Gießener Raum, wo die CDU stark ist, sondern in der Studentenstadt selber, wo die Grünen, die SPD und die Linke eine Koalition bilden.
Bouffiers Mutter ist 95 Jahre alt und lebt mit Tochter Karin Bouffier-Pfeffer und Schwiegersohn in dem Haus, in dem auch Volker Bouffier und seine Schwester groß wurden. Auch auf seine Familie münzt er jene Formulierung, die er in Hunderten von Ehrungen schon gebraucht hat: „die mich trägt und erträgt“. Die Bouffiers halten zusammen und haben schon Urlaube im Großverbund verbracht.
Zusammenhalt, wie Familien ihn der Gesellschaft vorleben, vermisst der Politiker in seiner zeitdiagnostischen Analyse immer mehr. Noch nie in seiner politisch bewussten Wahrnehmung habe es einen solchen Verlust an Vertrauen gegeben – in die Kirchen, die Medien, die Parteien, den öffentlichen Dienst, generell die Handlungsfähigkeit des Staates. Und dann kommt er auf jenen Brief zu sprechen, der ihn kürzlich so berührte.
Er stammte von einer 77 Jahre alten Frau.
Sie hatte sich nach den Kosten einer Wärmepumpe erkundigt, demnächst verordnet vom Staat. Die sollten sich auf 28.000 Euro belaufen. Da ihr Heizungssystem dann aber komplett umgebaut werden müsste, hätte sie insgesamt 177.000 Euro ausgeben müssen, eine Summe, die sie nicht auf der hohen Kante habe und die ihr in diesem Alter keine Bank mehr leihen werde. Gleichzeitig sehe sie im Fernsehen, dass der Staat die Klimakleber durch Polizisten, also Staatsdiener, mühsam und folgenlos von den Straßen löse, sie verstehe die Welt nicht mehr. Bouffier machen solche Briefe ratlos. „Wir verlieren die Menschen in der Mitte, und die Ampelregierung trägt dazu bei.“ Auch zu den Klimaaktivisten hat er eine klare Meinung: „Das sind Straftäter.“
Man kann sich gut vorstellen, dass der Politiker den Brief der alten Dame in einer seiner nächsten Reden erwähnen wird. Bouffier ist ein glänzender Rhetor, einer, der fast immer frei spricht, noch nicht einmal ausgerüstet mit einem Stichwortzettel. Oft ein wenig zu lang, aber immer interessant, verständlich, zupackend, fähig zu einem großen inhaltlichen Bogen. Und einer, der sich auf die unterschiedlichsten Arten von Publikum einstellen kann, von den Feuerwehrleuten bis zu den Gästen der Opern-, Wein- und Sportgalas.
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- Boehncke, Heiner (Author)
Als Pensionär scheint Volker Bouffier in sich zu ruhen. Zu seiner Resilienz tragen sicherlich auch die überstandenen Schicksalsschläge bei: die Ermordung seines Freundes Walter Lübcke im Juni 2019, der Freitod des Hoffnungsträgers Thomas Schäfer im März 2020, die glücklich überstandene Krebserkrankung. Und jener Autounfall auf der Urlaubsfahrt nach Kroatien im Alter von 23 Jahren, der ihn zeitweise lähmte und der viele Operationen nach sich zog, den er nur überstand, weil er so austrainiert war. Als er sich wieder bewegen konnte, bereitete er sich im Krankenhaus auf das Erste juristische Examen vor. Doch der Schönfelder, die dicke Gesetzessammlung, war so schwer, dass er ihn nicht in den Händen halten konnte. Da fand sich eine Art Teewagen, auf den der Schönfelder gelegt wurde, und seine Mutter befestigte Gummienden an den Stricknadeln, mit denen er umblättern konnte.
Das alles liegt lange zurück, aber Bouffier hat es nicht vergessen, schon weil ihn noch immer Schmerzen daran erinnern. Zum Abschied und vielleicht als leisen Wink, das Leben von nun an freizeitorientierter zu führen, hat ihm sein CDU-Kreisverband zum Abschied einen Golfkursus geschenkt. Von sechs Stunden haben er und seine Frau inzwischen mit Mühe und Not fünf geschafft. Der verhinderte Freizeitgolfer ist skeptisch: „Also, das kostet unheimlich viel Zeit. So weit bin ich noch nicht.“
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