Wintersport kann so faszinierend sein. Vor allem wenn die Akteure nicht auf Erfolg dressierte Profis sind, sondern charmante Individualisten. In St. Moritz beim legendären Cresta Run im spiegelglatten Eiskanal verlockt das Spiel mit dem Risiko. Bis zu 140 Stundenkilometer erreichen die Hasardeure mit dem Kopf voraus auf ihren Metallschlitten.
Ausrichter der Wettkämpfe auf der 1214 Meter langen Strecke nach Celerina ist der 1887 gegründete Tobogganing Club, ein distinguierter Kreis von Exzentrikern. Von Ende Dezember bis Anfang März finden auf der Bahn in der Schweiz mehr als 30 Rennen statt. Text: Thomas Zorn
Gunther Sachs gehörte fraglos zu den prominentesten Teilnehmern beim Cresta. Selbst der für seine Lässigkeit geschätzte Playboy bekannte einmal, beim Start immer einen ganz schönen „Bammel“ gehabt zu haben. Es kostet schließlich eine Menge Überwindung, sich auf den Schlitten in die Tiefe zu werfen. „Der Run fällt anfangs schon sehr steil ab“, beschrieb der Frauenschwarm die Herausforderung. Der vor sieben Jahren gestorbene Lebemann war es gewohnt, sich knallharten Aufgaben zu stellen. Er erbte einen großen Konzern, wagte die Ehe mit der französischen Schauspielerin Brigitte Bardot und fand internationale Anerkennung als Fotograf.
Doch der Cresta nötigte ihm besonderen Respekt ab. Ein cooler Typ wie er ließ sich die Nervosität nicht anmerken. Mit 25 Jahren raste er sogar in einem zugenagelten Sarg hinunter. Bis ins Ziel schaffte er es nicht. Er stürzte mit der Kiste und konnte doch lachend aussteigen. Die Furcht hatte er mit einer Riesengaudi bezwungen.
Schwarzer Humor gehört beim Cresta zur DNA. So wird der direkte Körperkontakt mit der Eiswand „Cresta Kiss“ genannt. Den gilt es zu vermeiden. Dass dies nicht immer gelingt, weiß man im Tobogganing Club am besten. Dessen zweistöckiges Clubhaus steht am Rand von St. Moritz mit fabelhafter Aussicht auf die Rennstrecke. Nur für Mitglieder ist es täglich geöffnet. Alle anderen müssen draußen bleiben, wie das Schild „Strictly Private“ deutlich macht.
Die Männerdomäne ist geschleift
Doch immerhin wird eine Saisonmitgliedschaft gewährt. Die kostet allerdings eine Kleinigkeit. Mit 600 Schweizer Franken ist man dabei. Sie berechtigt zu fünf Fahrten auf dem flachen Schlitten, dessen Kufen leicht gebogen und hinten messerscharf geschliffen sind. Ein Ausbrechen des Gefährts soll damit vermieden werden. Mit dem Kopf nur wenige Zentimeter über dem Boden, da braucht es schon eine Menge Courage.
Wer das Abenteuer eingeht, sollte auf jeden Fall versichert und über 18 Jahre alt sein. Bis 1929 durften auch Frauen ihr Glück versuchen. Dann beschloss der Club, die Sache sei für die Damen zu gefährlich. Durch die Bauchposition sei außerdem nicht auszuschließen, dass sie an Brustkrebs erkrankten – eine wilde Spekulation. Nach dem ziemlich uneleganten Rausschmiss fühlten sich die Herren sichtlich erleichtert. In der Garderobe hängt noch heute ein Schild mit der ehrlichen Ansage: „Cresta Run – wo Frauen keinen Ärger machen und die Geplagten Ruhe finden.“ Doch auch diese Männerdomäne ist geschleift. Jetzt beschlossen die Mitglieder, Frauen ab diesem Winter wieder zuzulassen.
Wohlhabende und schneebegeisterte Engländer haben den halsbrecherischen Spaß im 19. Jahrhundert erfunden.
Die Einweisung der Neulinge beginnt an rennfreien Tagen um sieben Uhr morgens. Instruktoren bringen den Novizen bei, wie man sich auf den stählernen Geschossen behaupten kann. Ein Initiationsritual ist die „Todesansprache“ im Clubraum durch den Clubsekretär. Er erläutert die Röntgenbilder, die dort an der Wand hängen. „All diese Knochen wurden schon im Cresta Run gebrochen“, heißt es dann.
Beim Blick auf die Aufnahmen kann es einem schon mulmig werden. Da scheint ein Stück vom Fuß zu fehlen. Dort ist ein Schlüsselbein angeknackst und hier eine Halswirbelsäule verschraubt. Das ist schon krass. Die makabre Einführung verfehlt selten ihre Wirkung. Tatsächlich ist es in der langen Geschichte des Cresta Run immer wieder einmal zu schweren Verletzungen gekommen. Sogar ein paar Todesfälle hat es gegeben. Die Burschen, die sich von ihren Schlitten herunterkatapultieren lassen, bremsen deshalb schon aus Selbsterhaltungsgründen lieber einmal zu viel, als aus einer Kurve zu fliegen.
Frankfurt hält Streckenrekord
Für die Anfänger, die Motorradhelme, Lederpolster an Knien und Ellbogen sowie dicke Handschuhe tragen, ist die Strecke entschärft und um ein Drittel verkürzt. Zwei Fahrten schafft man am Tag. Ab Mittag ist die Bahn geschlossen. Der Dresscode ist beim Cresta Run ausgesprochen uneinheitlich. Wer sich als Gentleman inszenieren möchte, greift gern mal zu altmodischen Kleidungsstücken. Hier findet man Kerle in Knickerbockern, ausgeleierten Pullovern und blauen Navy-Jacken. Understatement und Selbstironie sind angesagt. Zu ernst sollte man sich nicht nehmen, wenn man den Cresta nur ausprobiert.
Doch wer die Sache professionell betreibt, steckt in einem hautengen Rennanzug. An einem Cresta-Rennen darf nur teilnehmen, wer zum Club gehört. Das sind zwar derzeit rund 1.500 Herren, doch darunter sind nur 300 aktive Fahrer. „Davon sind höchstens zwei Drittel wirklich sportlich ambitioniert“, berichtet Magnus Eger. Der 35 Jahre alte Banker aus Frankfurt hält den Streckenrekord vom Startpunkt „Junction“ mit 40,94 Sekunden, aufgestellt im Januar 2017. „Das war ein Wahnsinnsmoment“, sagt der aus Wuppertal stammende Athlet, ein früherer Hockey-Bundesligaspieler.
Zwar haben die Aktiven immer nur ein und dieselbe Bahn, aber jeder Tag sei anders, meint Eger. „Wenn das Eis zu weich ist, versinken wir mit unserem 35 Kilogramm schweren Schlitten geradezu im Schnee“, erzählt er. „Und wenn es sehr kalt ist, wird das Eis richtig klebrig.“ Am schnellsten sei die Bahn bei acht Grad minus. Am Ende entscheide der Mut. „Die perfekte Fahrt gibt es beim Cresta nicht.“
Egers Eltern sind seit Jahrzenten in Pontresina bei St. Moritz beheimatet. So stieß er auf den Tobogganing Club. Die Kultur dort sei angelsächsisch geprägt, erklärt der durchtrainierte Pilot. Sportliche Leistung erkenne man an. Trotzdem müsse noch jemand bürgen, wenn man Mitglied werden wolle, und den Antrag gegenüber einem Komitee vortragen.
Schwarzer Humor gehört beim Cresta Run zur DNA.
So wird der direkte Körperkontakt mit der Eiswand „Cresta Kiss“ genannt.
Auf die Cracks, die mit einem kurzen, kräftigen Anlauf auf ihre Schlitten springen, wartet ein Gefälle von 157 Metern und zehn Kurven, darunter die berüchtigte „Shuttlecock“ (Federball). Sie wurde schon vielen zum Verhängnis. Die Linkskehre ist auch ein Sicherheitsventil. Denn in dem technisch besonders schwierigen Abschnitt hat der Pilot mit etwa 80 Stundenkilometern die maximale Geschwindigkeit noch nicht erreicht. Unkontrollierte Schlitten segeln in das bereitgelegte Heu und erreichen so erst gar nicht den gefährlicheren Teil der Bahn.
Wie zur Pionierzeit wird der Kurs jeden Winter aufs Neue aus Schnee in Handarbeit errichtet. Vor Stürzen aus großer Höhe schützt das Streckenprofil – ein breites, offenes U. Am Ziel geht es in einem Halbkreis bergauf. Der Ritt auf den Kufen bei maximaler Geschwindigkeit ist wahrer Leistungssport.
In den 50-Jahren wurde überlegt, den Cresta Run in den internationalen Wettkampfkalender aufzunehmen. Schließlich unterschied sich das Reglement kaum von den üblichen Skeleton-Wettkämpfen, die inzwischen sogar olympisch sind. Doch Lord Brabazon of Tara, damals die bestimmende Persönlichkeit im Club, sagte No. Der Ex-Verkehrsminister ihrer Majestät unter Premierminister Winston Churchill verteidigte die „splendid isolation“ in altbritischer Tradition.
Erfindung der Engländer
Die Unterschiede zum offiziellen Skeleton sind gering. Das stählerne Skelett, mit dem es hinuntergeht, besteht aus einer hochgezogenen starren Wanne mit Halte- sowie seitlichen Prallbügeln. Wohlhabende und schneebegeisterte Engländer haben den halsbrecherischen Spaß im 19. Jahrhundert erfunden. Dabei halfen die Engadiner Bauern. Die Wintergäste von der Insel hatten beobachtet, wie das Bergvolk geschlagenes Holz auf Schlitten ins Tal transportierte.
Die Briten verwandelten das Arbeits- in ein Sportgefährt und veranstalteten verrückte Rennen. Ehrgeiz war immer dabei. Sie tüftelten herum, um möglichst schnell zu sein. Als extrem erfolgreich erwies sich eine Bauweise aus Amerika, die Toboggan hieß. So bezeichneten die Ureinwohner Kanadas ihren Typ Schlitten. So entstand der Name St. Moritz Tobogganing Club.
Erste Crestarennen wurden in St. Moritz schon zwei Jahre vor der Klubgründung in der Wintersaison 1884/85 ausgetragen. Major W. H. Bulpett hatte den Bau eines Eiskanals veranlasst. Das noch heute veranstaltete „Grand National“ fand damals zum ersten Mal statt. Die Linienführung der Strecke hat sich seitdem nicht verändert. Tradition wird beim Cresta mit Hingabe gepflegt.
Davon zeugen auch die Accessoires für Mitglieder, die in einer Vitrine des Clubhauses ausliegen: wollene Kniestrümpfe in den Clubfarben Gold und Burgunderrot, Abzeichen für das Auto und fesche Krawatten mit eingesticktem Federball. Sie spielen auf die schicksalhafte „Shuttlecock Curve“ an und zieren Bruchpiloten, die es dort hinausgetragen hat. Wer sich bei der Landung verletzt, darf sich sogar einen Schlips mit rotem Punkt umbinden. Das Rot steht dafür, dass Blut geflossen ist.
Für manch braven Deutschen mag der schwarze britische Humor starker Tobak sein. Doch dann hat er im Tobogganing Club nichts zu suchen. Verkehrssprache ist übrigens Englisch, gern mit dem Zungenschlag der britischen Oberklasse.
Prominente des internationalen Jetsets zählen oder zählten zu den Mitgliedern, beispielsweise Robert A. Lutz, der ehemalige Boss von Chrysler und General Motors, ein gebürtiger Schweizer. Arnold von Bohlen und Halbach aus der Krupp-Dynastie ist ebenfalls dabei. Bis zu seinem Tod im Jahr 2003 gehörte auch Fiat-Boss Gianni Agnelli dazu. Der Turiner Industrielle liebte leidenschaftlich die Rennen im Eiskanal. Viele Unternehmer und Manager, aber auch Angehörige des europäischen Adels, sind Mitglieder des Clubs. Anfangs spielten hohe Militärs eine führende Rolle. Sowohl in der Armee wie beim Cresta Run komme es auf Tapferkeit und Disziplin an, lautete die stramme Botschaft.
Standortfaktor für St. Moritz
Berühmt sind die besten Cresta Runner nicht. Fast jeder kennt Tennislegenden wie Fred Perry, Björn Borg oder Roger Federer. Im Tobogganing Club werden der italienische Gemüsehändler Nino Babbia und der Eidgenosse Franco Gansser verehrt. Beide gewannen das „Grand National“, den weltweit ältesten Wintersportwettkampf, je achtmal. Zweimal – 1979 und 1980 – lag Marcel Melcher vorn. Der aus St. Moritz stammende Sportjournalist war einer der wenigen Lokalmatadoren, die sich als Sieger in die Ehrenliste des traditionsreichen Wettbewerbs eintragen konnten. „Ich habe vorher immer gut geschlafen und war am Start hochkonzentriert“, erinnert sich der gelernte Elektromonteur an seine Top-Zeit beim Cresta Run.
Idole sind die Club-Helden nur für Insider. Doch auch ohne Weltstars zögen die Cresta-Rennen Neugierige in Scharen an, sagt Urs Hammer, Schweizer Generalkonsul in Frankfurt. Für St. Moritz sei das Ganze ein Trumpf. „Tempo, Einsatz und die spezielle Atmosphäre üben eine große Faszination aus“, konstatiert der Diplomat. „Man muss es einmal gesehen haben.
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