Frankfurt, New York oder Tokio – die Möglichkeit, in nur wenigen Stunden tausende Kilometer zurückzulegen und am anderen Ende der Welt aus dem Flugzeug zu steigen, ist eine wertvolle Errungenschaft des modernen Zeitalters. Doch nicht immer sorgt die Flugreise für Euphorie, zieht sie doch ein neues Phänomen mit sich, das es bei tagelangen Fernreisen mit Zug und Schiff nicht gab: den Jetlag. Von Dr. Stephanie Grabhorn
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Das Jetlag-Syndrom tritt beim Überfliegen mehrerer Zeitzonen auf, also bei Flügen in die westliche oder östliche Richtung. Er resultiert aus dem körperlichen Unvermögen, sich den überflogenen Zonen im Zeitraffer anzupassen, was zur Folge hat, dass die „innere Uhr“ außer Takt gerät und den Schlaf-Wach-Rhythmus nicht mehr koordinieren kann. Da diese körpereigene Schaltstelle jedoch für wichtige Zell- und Körperfunktionen verantwortlich ist, zieht der Zeitzonenkater eine Reihe unangenehmer Symptome mit sich.
Der Zeitzonensprung und
 die körperlichen Auswirkungen
Auf einem Flug von Frankfurt nach Los Angeles überschreitet ein Reisender innerhalb von zwölf Stunden neun Zeitzonen. Während an der amerikanischen Westküste die Mittagssonne strahlt, stehen die Zeiger seiner inneren Uhr bereits auf 22 Uhr. Der menschliche Körper braucht Zeit, um sich auf den veränderten Schlaf-Wach-Rhythmus einzustellen – häufig wird diese ihm jedoch verwehrt und der Jetlag beginnt. Harmlose Anzeichen sind Tagesmüdigkeit, Konzentrationsschwäche und eingeschränkte Leistungsfähigkeit, unter Umständen können jedoch auch Schwindel und Verdauungsprobleme hinzukommen.
Die Symptome verschwinden erst, wenn sich der Körper mit seinen Funktionen auf die tatsächliche Ortszeit eingestellt hat. Diese Synchronisierung benötigt allerdings Zeit: Im Durchschnitt rechnet man für die Anpassung an den neuen Tag-Nacht-Rhythmus für jede Stunde Zeitverschiebung einen ganzen Tag. Das heißt bei einem Flug in die USA kann es über eine Woche dauern, bis sich unser Körper an den neuen Tagesablauf gewöhnt hat.
Bei einem Flug in die USA kann es über eine Woche dauern, bis sich unser Körper an den neuen Tagesablauf gewöhnt hat.
Wie viel Zeit der Körper dafür benötigt, hängt einerseits von der Zahl der überflogenen Zeitzonen ab, aber auch von der individuellen körperlichen Konstitution. So gibt es Menschen, die sich dem Rhythmus wesentlich schneller anpassen können als andere. Zudem spielt es eine große Rolle, in welche Richtung man die Flugreise antritt. So sind die Jetlag-Symptome bei Flügen Richtung Osten wesentlich stärker ausgeprägt, als bei Flügen gen Westen. Zurückzuführen ist dies auf die Gegebenheit, dass sich der Tag durch die Zeitverschiebung in Richtung Westen verlängert, was für den Körper leichter zu verarbeiten ist als eine Verkürzung des Tages.
Wie lässt sich der Jetlag biologisch erklären?
Unser Körper braucht Regelmäßigkeit. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass ein geregeltes Leben mit einem kontinuierlichen Tag-Nacht-Rhythmus von hoher Relevanz für die menschliche Gesundheit ist. Denn viele wichtige körperliche und psychische Vorgänge im Körper verlaufen nach einem festgelegten natürlichen Takt.
Diese Funktionen haben einen Zyklus von einer Tageslänge und werden als „zirkadiane Rhythmen“ bezeichnet. Zu den Funktionen, die solchen festgelegten tagesrhythmischen Schwankungen unterliegen, gehören unter anderem der Blutdruck, die Herzfrequenz, die Körpertemperatur und die Ausschüttung verschiedener Hormone. Diese Hormone haben beispielsweise Einfluss auf unsere Stimmung, die Libido und unser Immunsystem. Gesteuert werden diese zirkadianen Rhythmen von Zellansammlungen in unserem Gehirn, welche die Nervenkerne an der Hirnbasis darstellen.
Das Auge und das Gehirn stimmen sich ab: Melatonin oder Cortisol?
Unser Auge übernimmt eine wichtige Aufgabe bei der Regulation des Tag-Nacht-Rhythmus. Die im Auge befindliche Netzhaut registriert die Intensität des einfallenden Sonnenlichts oder die Dunkelheit der Nacht. Unser Gehirn reagiert darauf mit der Ausschüttung entsprechender Botenstoffe.
So wird beispielsweise der Botenstoff Melatonin im Gehirn bei Dunkelheit verstärkt ausgeschüttet. Das auch als „Schlafhormon“ bezeichnete Melatonin bremst die Aktivität, macht müde und bereitet uns so auf die Nacht vor.
Ein Gegenspieler des Melatonins ist das „Stresshormon“ Cortisol. Am Morgen wird die natürliche Produktion des Cortisol erhöht, in Folge dessen steigt die Körpertemperatur sowie die Herzfrequenz und wir werden mit Energie für den Tag versorgt. Deutlich wird: Unser Körper reguliert seine Zellfunktionen über zahlreiche Botenstoffe und Hormone.
Damit gleicht er einem riesigen Orchester, das in perfekter Balance und Ordnung zusammenspielt. Normalerweise befinden sich die verschiedenen zirkadianen (Bio-) Rhythmen in eingespielter Harmonie. Ein unregelmäßiger Lebensrhythmus, Schichtarbeit und der Jetlag führen dazu, dass das Orchester spürbar aus dem Takt gerät. Durch die mangelnde Anpassungszeit mit dauerhaften Problemen wie Bluthochdruck, Konzentrationsstörungen oder chronischen Schlafstörungen rechnen müssen.
Gibt es Medikamente oder Therapien gegen Jetlag?
Melatonin
Das Schlafhormon Melatonin fördert das Einschlafen und galt daher als großer Hoffnungsträger in Bezug auf das Jetlag-Syndrom. In vielen Studien wurde die Wirkungsweise des Hormons untersucht – mit widersprüchlichen Ergebnissen. Während einige Untersuchungen zu dem Ergebnis kamen, dass die Einnahme von Melatonin die Symptome eines Jetlag lindert bzw. die Anpassungszeit an den neuen Tagesrhythmus verkürzt, erwies sich das Hormon in anderen Studien als wenig wirksam. Aus diesem Grund waren melatoninhaltige Präparate in Europa lange nicht zur Behandlung des Jetlag zugelassen. Dies hat sich jedoch vor kurzem geändert. Das in Deutschland zugelassene Melatonin-Präparat ist jedoch verschreibungspflichtig. Gegen Vorlage eines Rezeptes kann das Medikament in jeder Apotheke bezogen werden. Wenn man sich trotz der ambivalenten wissenschaftlichen Einschätzung zu der Einnahme von Melatonin-Tabletten entscheidet, sollten diese erst kurz vor dem Schlafengehen eingenommen werden. Bei Westflügen werden 0,5 mg Melatonin empfohlen, während bei Ostflügen 0,3 mg angeraten werden. Schwangere und Stillende sollten allerdings auf Melatonin verzichten, mahnen Experten. Zudem gibt es das bisher einzige zugelassene Präparat in Deutschland nur für Patienten über 55 Jahre. In den USA hingegen ist Melatonin frei verkäuflich im Supermarkt bis 3 mg zu erhalten.
Schlafmittel
Auch kurzzeitig wirksame Schlafmittel, wie z. B. Zolpidem, können die Beschwerden beim Jetlag mildern. Diese Substanzen wirken sehr schnell und haben eine kurze Halbwertszeit, so dass am nächsten Tag fast kein „Hang Over“ zu verspüren ist. Diese Medikamente sind allerdings verschreibungspflichtig und haben ein Abhängigkeitspotenzial. Daher sollten sie nur sehr kurz zur Anwendung kommen.
Lichtblitze als Therapie
Das junge Startup-Unternehmen Lumostech hat eine Brille mit LED-Lichtblitzen entwickelt, die die Netzhaut schnell frequentiert belichtet. Sie soll vor dem Flug drei Tage und am Ziel einen Tag lang für je 50 Minuten getragen werden und bestrahlt die Augen mit einem speziellen grünen Licht. Laut einer Studie der Stanford University soll diese Behandlung tatsächlich den Jetlag verkürzen, da den sensitiven Augenzellen zur richtigen Zeit die entsprechenden Lichtimpulse geschickt werden. Die Brille kann im Internet bestellt werden, kostet allerdings um die 200 Euro.
Kräuter und Pflanzen, Akupressur?
Aber nicht nur konventionelle Maßnahmen versprechen Abhilfe, auch pflanzliche Stoffe, wie Arnika und Kamille können die Symptome lindern. Homöopathen schwören auf Kügelchen mit Cocculus, der getrockneten Frucht der Scheinmyrte. Manche Reisende greifen zu einem von sechs empfohlenen Schüßlersalzen. Auch Akupressur an Händen, Füßen und Ohrläppchen soll die Energiebahnen harmonisieren. Doch Experten dämpfen die Hoffnung, denn eine erwiesene Wirkung hat keines dieser Mittel. Eine spürbare Besserung beruht vermutlich auf einem Placebo-Effekt.
Weniger Jetlag durch das richtige Verhalten?
Es gibt einige Maßnahmen, die vor, nach oder während der Reise ergriffen werden können, um dem Körper die Umstellung zu erleichtern. Nach Möglichkeit sollte man schon einige Tage vor dem Fernflug damit beginnen, den Tag-Nacht-Rhythmus an den Zielort anzupassen. Bei Westflügen bedeutet das, schon zwei bis drei Tage vor dem Abflug später als üblich ins Bett zu gehen und auch später aufzustehen als gewohnt. Bei Ostflügen gilt umgekehrt, dass man einige Tage vor Antritt der Reise früher schlafen gehen sollte.
Während des Fluges ist es ratsam, seinen Körper und die innere Uhr schon auf die Ortszeit am Ziel umzustellen. Das bedeutet, dass gegessen werden sollte, wenn auch am Ankunftsort Essenszeit ist und der Schlaf eingeleitet, wenn es an der Zieldestination dunkel wird. Angekommen sollte man sofort versuchen sich mit den Schlafgewohnheiten an den Rhythmus vor Ort zu halten.
Um vital und energiegeladen am Zielort anzukommen, sollten also folgende Punkte beachtet werden:
1. Auf Westflügen gegen die Müdigkeit ankämpfen und länger wach bleiben.
2. Am Ankunftsort am Sonnenstand orientieren, da sie der natürliche Taktgeber ist.
3. Aufputschende Getränke wie Kaffee, Cola oder Energydrinks am Abend vermeiden.
4. Auf Alkohol und große Mahlzeiten verzichten und zu guter Letzt anstrengende Tätigkeiten in den ersten Tagen vermeiden, um den Körper beim Synchronisierungsprozess nicht zusätzlich zu belasten.
Der Sommer naht, der nächste Langstreckenflug ist vielleicht schon in Ihren Kalender eingetragen und das Hotel an der Westküste gebucht? Ob zeitliche Schlafoptimierung, LED-Frequentierung oder leichte Schlafmittel – auch für Sie gibt es eine passende Maßnahme, um den ungeliebten Kater der Zeitzonen zu vermindern. Einen guten, erholsamen Flug!
Dr. med. Stephanie Grabhorn ist promovierte Medizinerin, Fachexpertin für Pharma- und Medizinthemen und arbeitet als Ärztin in der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Hofheim am Taunus, sowie als privatärztliche Psychotherapeutin. Die versierte Spezialistin ist auch in den öffentlichen Medien gefragt und ein regelmäßiger Gast in Beiträgen des Hessischen Rundfunks, des MDRs oder bei Focus-TV. Für Top Magazin Frankfurt hat sie das Phänomen Jetlag unter die Lupe genommen und herausgefunden, wie der Zeitzonenkater verursacht wird und wie ihm entgegengewirkt werden kann.