Prof. Dr. Jochen Maas glaubt an Forschung und Fortschritt. Er findet Impfen nicht gefährlicher als Autofahren und glaubt an den Sommer. Im Industriepark Höchst finden der Wissenschaftler und seine Mitstreiter die richtige Campus-Atmosphäre.
Jochen Maas ist ein Meister der Verständlichkeit. Der Forschungschef von Sanofi Deutschland verfügt außerdem über die Gabe, komplexe Zusammenhänge in aller Kürze auf den Punkt zu bringen. So braucht er für seine aktuelle Botschaft an die Menschheit nur sechs Wörter: „Impfen ist nicht gefährlicher als Autofahren.“ Oder: „Ein mRNA-Impfstoff kann das Erbgut nicht verändern. Das ist einfach eine wissenschaftliche Tatsache.“
Der Bekämpfung der Pandemie blickt Jochen Maas voller Hoffnung entgegen. Ein Grund dafür sind die neuen Impfstoffe, die in Rekordzeit entwickelt wurden. Zweifel an diesen Vakzinen lässt Maas nicht gelten. Wem es mit deren Entwicklung zu schnell ging, hält er entgegen: „Sie sind in keiner Weise anders geprüft worden als alle anderen Impfstoffe zuvor, von Diphterie bis Keuchhusten. Nur hat man diesmal alles parallel gemacht, was man bei einer normalen Impfstoffentwicklung nacheinander abwickeln würde.“ Der Biontech-Stoff sei in der Phase III an 43.500 Probanden überprüft worden, inklusive der Risikogruppen der Diabetiker, Herz-Kreislauf-Erkrankten und der übergewichtigen Menschen, 40 Prozent aller Probanden seien älter als 65 gewesen: „Die Impfstoff-Überprüfung durch die Behörden war absolut akribisch.“
Innovationskraft der Wissenschaft
Grund Nummer zwei für seinen Optimismus sind auch – „so trivial es klingen mag“ – Frühling und Sommer. Was mit dem saisonbedingten Verhalten der Menschen zu tun hat: Sie halten sich seltener in geschlossenen Räumen auf, haben im Freien mehr Bewegung, die Schleimhäute sind nicht so trocken. Positiv stimmt den Wissenschaftler auch, dass die bisher verfügbaren Impfstoffe gegen alle bisher bekannten Mutationen ankommen. „Und selbst wenn irgendwann Mutationen auftreten, gegen die ein Impfstoff machtlos wäre, bietet die neue Technologie die Möglichkeit, innerhalb von sechs bis acht Wochen einen neuen Wirkstoff zu entwickeln. Dabei ist die Mutationshäufigkeit von Grippeviren sieben bis zehn Mal größer als die von Corona.“
„Beim gemeinsamen Mittagessen oder bei einem Espresso im Café sind schon mehr Probleme gelöst worden als in vielen offiziellen Meetings“ – Prof. Dr. Jochen Maas
Jochen Maas ist Biologe, Tiermediziner, Facharzt für Radiologie und leitet nicht nur den deutschen Standort der Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Sanofi schon seit 2010, sondern fungiert auch als Mitglied des globalen Lenkungsausschusses des Pharmariesen mit seinen weltweit 100.000 Mitarbeitern. Maas begann seine Laufbahn bei der Hoechst AG, also einem Unternehmen, das für seine streng hierarchischen Strukturen bekannt war. Er selber ist sozusagen das verkörperte Gegenteil einer von oben nach unten gerichteten Befehlskette.
Schon in der Kleidung kehrt der Chef von knapp 1.500 hochqualifizierten Forscherinnen und Forschern nicht den Topmanager heraus. Wenn die gesellschaftliche Etikette nicht zwingend Anzug und Krawatte erfordert, tritt der schlanke 2,04-Meter-Mann locker gekleidet auf, gern im Pullover. Die fast ans Alemannische erinnernde Tonmelodie gibt seiner schwäbischen Mundart etwas Freundliches und Unaufgeregtes. Statt „ist“ sagt er „isch“, „Begeisterung“ wird zur „Begeischterung“. Diesen Begriff verwendet er oft, denn er geht jeden Tag gern in sein Büro im achten Stock des Gebäudes H 831 im Industriepark.
Die Firma Sanofi hat sich hier zu einer Art Campus zusammengefunden. Anders als an den anderen Forschungszentren von Sanofi in Paris und in Cambridge/Massachusetts wird hier in Höchst die gesamte Pharma-Wertschöpfungskette abgedeckt. Das heißt: Forschung, Entwicklung, Produktion, Marketing und die sogenannten Applikatoren befinden sich in unmittelbarer Nähe. Dieses rasche räumliche Zueinanderfinden ist auch in den Tagen digitaler Kommunikation enorm wichtig. Maas sagt, beim gemeinsamen Mittagessen oder bei einem Espresso im Café seien schon mehr Probleme gelöst worden als in vielen offiziellen Meetings. Der informelle Austausch hilft auch im Zusammenspiel von Forschern, Produktionsmitarbeitern und den Entwicklern der Applikatoren oder „Devices“, den Hilfsmitteln zur Anwendung von Arzneien: Ist ein Wirkstoff vielleicht zu dickflüssig für eine Spritze?
Jochen Maas: Forschung muss den Menschen helfen und Gewinn bringen
Denn ein Pharmahersteller wie Sanofi betreibt keine Forschung um der reinen Erkenntnis Willen. Alles ist immer anwendungsbezogen und wirklichkeitsnah. Das heißt: Es muss den Menschen helfen und es muss Gewinn bringen. Maas steht zu beiden Zielen. Der Wille, Krankheiten zu lindern oder zu heilen, sei tatsächlich der Hauptantrieb seiner Forscherinnen und Forscher. Aber das Unternehmen darf die Profitabilität nicht aus dem Auge verlieren. Und für den Nutzen des Zwangs zum Geldverdienen hat Maas auch ein gutes Argument: In den Jahren des Eisernen Vorhangs habe es auch im Ostblock, etwa in der UdSSR, hervorragende Forscher gegeben. Doch sie hätten keine wirksamen Medikamente hervorgebracht, während im gewinnorientierten Westen im selben Zeitabschnitt rund 2.000 auf den Markt kamen.
Deshalb spielen bei Sanofi wirtschaftliche Überlegungen auch in der Frage eine Rolle, welchen Gebieten sich die Forschung zuwenden soll. An Impfstoffen geforscht wird im Industriepark nicht. Hier wird aber – voraussichtlich ab Juli – der Impfstoff von Biontech abgefüllt und auch der eigene, wenn er von anderen Einheiten des Unternehmens in Frankreich und den Vereinigten Staaten entwickelt wurde. Im konkreten Fall sind das vor allem drei große Handlungsfelder: Immunologie, Onkologie und seltene Erkrankungen.
Ökonomische Aspekte bei Medizin und Forschung
Jede Krankheit hat schließlich medizinische, aber auch ökonomische Bedingtheiten. In der sehr weit fortgeschrittenen Behandlung von Diabetes beispielsweise wäre nur noch ein einziger Durchbruch zu erzielen, nämlich die komplette Heilung. In der Krebsbekämpfung dagegen sind noch enorme Fortschritte zu erzielen. Die Kosten spielen eine wichtige Rolle. Bei Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind oft Studien mit 10.000 bis 20.000 Patienten nötig. Das ist teuer. In der Onkologie können Substanzen mit sehr viel weniger Testpersonen zur Zulassung kommen, weil der Nachweis der Wirksamkeit leichter fällt. Die Erstattungen der Krankenkassen fallen natürlich auch ins Kalkül. Schon relativ überschaubare Kosten in der Diabetesbehandlung führen manchmal zu Diskussionen, während in der Krebstherapie auch hohe Summen akzeptiert werden.
„Im erweiterten Rhein-Main-Gebiet haben wir auf kleinstem Raum alle Stakeholder beieinander. Wir müssten nur noch besser werden in der Digitalisierung.“ –
Prof. Dr. Jochen Maas
Seltene Erkrankungen – es gibt rund 8000 – vereinen gleichfalls wieder zwei wichtige Eigenschaften, nämlich die medizinische Notwendigkeit ihrer Bekämpfung und die „Erstattungsfähigkeit“. Für die Forscher sind die raren Krankheiten nicht nur herausfordernd. Hier sind auch großartige Erfolge der Linderung oder gar Heilung möglich. Manchmal kommt es auf diesem Feld sogar zu persönlichen Begegnungen mit Patienten.
All das, die medizinischen, menschlichen und ökonomischen Faktoren, muss ein verantwortlich handelndes, aber auch der Wirtschaftlichkeit verpflichtetes Unternehmen berücksichtigen. Zumal der Weg zur Zulassung eines Medikaments im Regelfall sehr lange dauert. Erst kommt die Forschung, dann folgen die ersten Wirkungstests im Reagenzglas und vielleicht im Tierversuch, sodann die Klinische Phase I mit der Verträglichkeitsprüfung bei Gesunden. In Phase II wird die Substanz an wenigen Patienten erprobt, in Phase III an vielen von ihnen. Erst danach kommen die offizielle Überprüfung und schließlich die Zulassung. Bis dahin sind im Durchschnitt vierzehn Jahre vergangen.
Jochen Maas: Wissenschaft ohne Fachchinesisch
Solche Gemeinschaftsfähigkeit hat Jochen Maas früh eingeübt – als Handballer, der es zu den Zeiten des Bundestrainers Vlado Stenzel in den Siebzigerjahren bis in die Nationalmannschaft brachte. In einem Einzelsport wie Golf oder Geräteturnen wäre Maas nicht glücklich geworden. Er brauchte schon als Heranwachsender den Teamgeist „und auch das Erlebnis, dass die Mannschaft etwas erreicht, obwohl man selber nicht so gut drauf ist“. Außerdem schätzte er Handball als eine bodenständige, ehrliche Sportart. „Dass jemand wie beim Fußball den Verletzten mimt oder eine Schwalbe macht, das wird es beim Handball nicht geben. Die Spieler akzeptieren auch die Schiedsrichterentscheidungen ohne großes Theater.“
Natürlich hat Jochen Maas kürzlich am Fernseher die Handball-WM in Ägypten verfolgt, war enttäuscht, dass die Leistung der deutschen Mannschaft zur besten Sendezeit nicht als Werbung für seine einstige Leidenschaft taugte. Aber Maas ist nicht auf Sport fixiert. Er liest viel und gern, meist mehrere Bücher gleichzeitig – gute Krimis oder amerikanische Belletristik von Wally Lamb bis John Irving. Viel Spaß macht dem Forschungsmanager auch die Mitarbeit im Kuratorium des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt. Ihn interessieren die Interdependenzen von Wissenschaft und fiktionalem Film – von „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ bis zu Fassbinders „Welt am Draht“.
Das passt zu jemandem, der es für dringend geboten hält, Wissenschaft für jedermann verständlich zu machen, ohne Fachchinesisch, „raus aus dem Elfenbeinturm“. Maas glaubt, dass die Menschen vor allem das ablehnen, was sie nicht verstehen, weshalb er schon etliche Vorträge gehalten hat, um einer Impfmüdigkeit vorzubeugen.
Der Vizepräsident des House of Pharma & Healthcare könnte aber auch mühelos über die Bedeutung des erweiterten Rhein-Main-Gebiets inklusive Mainz, Gießen und Marburg sprechen, die er in Deutschland für einmalig hält: „Auf kleinstem Raum haben wir alle Stakeholder beieinander, die Unis, die Start-ups, Big Pharma mit Merck, Boehringer Ingelheim und Sanofi, das House of Pharma und die Initiative Gesundheitsindustrie. Wir müssten nur noch besser werden in der Digitalisierung.“
Ausdruck solcher Nähe und Verbundenheit ist auch, dass Jochen Maas von Zeit zu Zeit mit Uğur Şahin telefoniert, dem Vorstandsvorsitzenden von Biontech, über den er sagt: „Das ist einer der nettesten und unprätentiösesten Menschen, die ich kenne.“ Was sich aber auch über Jochen Maas sagen ließe. Nett sowieso. Unprätentiös erst recht. Und ein Meister der Verständlichkeit.
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