Um das Essen wird in der heutigen Zeit viel Hysterie betrieben: Alles muss gesund, laktosefrei, fettfrei, glutenfrei und vegan sein. Treten Übelkeit und Bauchschmerzen auf, vermutet man eine Unverträglichkeit. Wo bleibt da der Genuss, wo die Leidenschaft fürs Essen? Sind wir alle unverträglich geworden? Top Magazin hat mit Ernährungsexperte Uwe Knop und Allergologe Prof. Dr. med. Ludger Klimek über den Trend gesprochen. Die TV-Experten, bekannt aus dem Sat.1 Frühstücksfernsehen und Service- und Ratgebersendungen im BR und hr, raten uns: nicht alle Besser-Esser-Hypes mitmachen und lieber auf den eigenen Körper hören. Von Laura Uebel
Vielleicht ist Ihnen das folgende Szenario bekannt. Sie laden zu einem gemütlichen Dinner mit Freunden ein und stehen plötzlich vor einem Dilemma: Was soll man kochen, wenn von den vier eingeladenen Gästen die eine laktoseintolerant ist, der andere kein Gluten verträgt, die dritte eine Nuss-Allergie hat und der vierte auf Histamin reagiert? Manche von uns finden das Gehabe ums Essen völlig übertrieben. Und so wirklich ernst genommen werden angebliche Intoleranzen nicht von jedem.
Darf ich das noch Essen?
„In der Diskussion um die Essenshysterie ist zunächst einmal entscheidend, ob es sich um eine Allergie oder eine Unverträglichkeit handelt“, sagt Ernährungswissenschaftler und Buchautor Uwe Knop. Den wesentlichen Unterschied erklärt Prof. Dr. med. Ludger Klimek, Vorstandsmitglied im Ärzteverband Deutscher Allergologen und seit zehn Jahren Belegarzt der Main-Taunus-Privatklinik in Bad Soden: „Eine Allergie ist eine Immunreaktion, bei der das Immunsystem bewusst einen Stoff attackiert. Bei einer Unverträglichkeit reagiert der Körper zwar auch auf spezielle Inhaltsstoffe, dabei wird das Immunsystem aber lediglich überfordert.“
Jeder Körper springe dabei unterschiedlich stark auf unterschiedlich hohe Dosierungen unverträglicher Lebensmittelbestandteile an. Anders als bei einer Allergie, bei der der Körper schon auf die minimalste Menge eines Stoffes reagiere, werden „beispielsweise bei einer Laktoseintoleranz verschiedene Stufen der Beschwerden ausgemacht. Häufig treten Reizungen am Darm auf, vom Völle-Gefühl über Bauchkrämpfe bis hin zu Durchfällen“, so Dr. Klimek.
Beide Spezialisten sagen, dass eine Lebensmittelunverträglichkeit im Gegensatz zu einer Allergie keine nachhaltigen Schäden im Körper anrichten kann. Ernst zu nehmen sei jedoch die Unverträglichkeit gegenüber dem Klebereiweiß Gluten. Die Intoleranz könne ein Hinweis auf die chronische Darmerkrankung Zöliakie sein, die medizinisch unbedingt abgeklärt werden müsste. „Tatsächlich gibt es aber nur ungefähr zwischen 0,5 und 1 Prozent Zöliakie-Kranke deutschlandweit“, beruhigt Knop und bezieht sich damit auf die Prävalenz des Deutschen Ärzteblattes CME in 2013.
Lese-Tipp
- Knop, Uwe (Author)
Vorsorge sei in jedem Fall besser als Nachsorge, so das Resümee beider Experten: „Wer vermutet, an einer Unverträglichkeit oder Allergie zu leiden, der sollte diese ärztlich diagnostizieren lassen. Nur so hat man Gewissheit.“ Wer Hilfe suche, finde diese bei Allergologen, die sich auch mit Nahrungsmittelallergien beschäftigen, so Prof. Dr. Klimek. Diese Ärzte würden zumeist zwar nicht identische, aber verwandte Erkrankungen behandeln.
Der „Pizza-Esser-Hype“
Googelt man Studien zum Thema Lebensmittelunverträglichkeit, stößt man auf vereinzelte und vor allen Dingen veraltete Befragungen. 2016 wurde laut Robert-Koch-Institut bei 4,7 Prozent der Erwachsenen in Deutschland eine Nahrungsmittelunverträglichkeit diagnostiziert. Die Ernährungsstudie „Iss was, Deutschland“ der Techniker Krankenkasse (TK) zeigte, dass in 2016 sieben Prozent aller Befragten angaben, an Laktoseintoleranz zu leiden. Zuvor lag der Anteil in der Befragung von 2013 bei vier Prozent. Die TK begründet diesen Anstieg in der erhöhten Aufmerksamkeit für das Thema. Prof. Dr. Klimek merkt an: „Im Allergiezentrum in Wiesbaden stellen wir wesentlich häufiger fest, dass jemand eine vermutete Intoleranz letztlich doch nicht hat.“
Ernährungswissenschaftler Knop ist der Meinung: „Für viele ist es ein Lifestyle-Effekt – ich verzichte auf bestimmte Inhaltsstoffe, weil es gerade Trend ist.“ Ob Posts auf Instagram, YouTube-Vlogs oder Kochevents im TV, gerade in Zeiten der sozialen Medien ließe sich diese Ernährungsreligion nur zu leicht missionieren. „Ich nenne das immer gerne Pizza-Esser-Hype. Viele Leute identifizieren sich damit, es macht ihnen Spaß und deshalb ist es nicht mehr als eine Modeerscheinung.“
Auch beim Einkauf werden wir mit diesem Trend konfrontiert. Pizzateig ohne Gluten, Milch ohne Laktose, histaminfreier Wein – wer im Supermarkt steht, wird schnell auf die gut sichtbaren Etikette der für das Kundenauge zentral platzierten Produkte aufmerksam. Sie füllen mittlerweile ganze Regale. Auch Lebensmittel wie der Emmentaler-Käse, die natürlicherweise keine Stoffe wie Laktose oder Gluten enthalten, werden als „frei von…“ ausgelobt. Bei so manch einem wird der Eindruck erweckt, dass diese Lebensmittel gesünder seien. Sicher ist jedoch nur eines: Sie sind teurer.
„Das große Sortiment hat weniger damit zu tun, dass man auf einmal den ein Prozent Zöliakie-Kranken was Gutes tun will, sondern mehr damit, dass es einfach ein Trend ist, für den Menschen gerne viel Geld bezahlen. Zum Beispiel für glutenfreie Spaghetti“, sagt Knop. Prof. Dr. Klimek sieht in dem ökonomischen Trend jedoch auch Vorteile: „Für Betroffene ist der Hype der Supermärkte dennoch sinnvoll, weil deren Leben erleichtert und die Lebensqualität verbessert wird.“
App-Tipp: CodeCheck
CodeCheck ist nicht nur eine Allergie-App, sondern hilft auch beim bewussten Einkaufen. Einfach den Barcode scannen und die App verrät, ob Gluten, Laktose, Fructose oder Zucker in dem Produkt enthalten sind. Auch unerwünschte Stoffe wie Parabene, Paraffine, Nanopartikel, Mikroplastik werden angezeigt. Das Ganze funktioniert für Lebensmittel und Kosmetik.
Die Ernährungshypochonder
Weiter meint Klimek: „In gewisser Weise bringt der Trend auch Positives mit sich, wenn sich Menschen über ihre Ernährung Gedanken machen.“ Laut der TK-Ernährungsstudie gaben in 2016 45 Prozent der Befragten an, dass es ihnen bei der Ernährung vor allem darauf ankommt, dass sie gesund ist. In der Befragung von 2013 war „Hauptsache lecker“ das am Häufigsten genannte Kriterium. Grundsätzlich sehen die Experten kein Problem darin, wenn auf Lebensmittel verzichtet wird: „Wenn jemand kein Gluten mehr zu sich nehmen will, dann ‘so what’. Es gibt genug andere Lebensmittel“, meint Knop. Es komme aber immer darauf an, wie stark der Verzicht ausgelebt werde.
Dr. Klimek: „Leider gibt es auch Menschen, die sich zu sehr auf ihre Ernährung fixieren und sich dadurch zu einseitig ernähren.“ Die Folgen sind Mangelerscheinungen und Unterernährungen bis hin zu psychischen Störungen. Knop erklärt: „Es gibt eine Krankheit, die nennt sich Orthorexie, bei der Menschen den Zwang haben, nur noch gesunde Lebensmittel zu sich zu nehmen. Dabei gibt es aus meiner Sicht keine gesunden und ungesunden Lebensmittel.“ Der Experte rät: „Zu einer ausgewogenen und gesunden Ernährung hilft nur das Gefühl für den eigenen Körper. Nur man selbst weiß, was dem eigenen Körper guttut und was nicht.“
Hör auf deinen Körper!
Man sollte sich also nie von Ernährungshypes das Essen verderben lassen. Denn alle Besser-Esser-Hypes versprechen zwar eine gesunde Ernährung, aber nicht jeder Hype hält auch, was er verspricht. Und nicht für jede spezifische Ernährungsweise gibt es wissenschaftliche Beweise, welche die Förderung der Gesundheit oder die Vorbeugung von Krankheiten belegen. Und nicht hinter jedem Bauchziehen verbirgt sich eine Unverträglichkeit. Wir sollten lieber den Genuss und die Leidenschaft am Essen wiederfinden und lernen, was uns guttut. Und im Zweifelsfall weglassen, was uns nicht bekommt. „Intuitives Essen“ nennt sich das – kein Trend, nur der Ursprung aller Ernährungsnavigatoren: der Mensch und sein Selbstvertrauen in den eigenen Körper.
Fakten zu Lebensmittel-Unverträglichkeiten
► First of all: Eine Lebensmittelunverträglichkeit ist keine Lebensmittelallergie.
► 6 wurde laut Robert-Koch-Institut bei 4,7 % der Erwachsenen in Deutschland eine Nahrungsmittelunverträglichkeit diagnostiziert.
► Häufig verbreitete Lebensmittel-intoleranzen sind Laktoseintoleranz und Glutenunverträglichkeit.
► An Zöliakie, einer chronischen Darmerkrankung, litten laut Prävalenzerhebung des Deutschen Ärzteblattes CME etwa 0,5-1 % deutschlandweit.
► Vorsorge ist besser als Nachsorge. Allergologen bzw. Ärzte können mittels verschiedener Tests feststellen, ob man an einer Allergie oder einer Unverträglichkeit leidet.
► Jeder Körper reagiert unterschiedlich stark auf unterschiedlich hohe Dosierungen unverträglicher Lebensmittelbestandteile.
► Als „frei von…“ ausgelobte Produkte sind nicht automatisch gesünder als andere. Aber oftmals teurer.
► Orthorexie ist eine Krankheit. Eine Essstörung, bei der die übermäßige Beschäftigung mit Lebensmitteln und der eignen Ernährungsweise zu physischen und psychischen Beeinträchtigungen führt.
► Und zu guter Letzt: Vertrauen Sie Ihrem Körpergefühl. Nur Sie wissen, was Ihnen gut tut und was nicht.
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