Dass Reinhard Ernst der Stadt Wiesbaden ein Museum schenken kann, liegt an seiner Freundlichkeit. Das war so: Ernst und seine heutige Frau Sonja hatten 1968 aus Anlass ihrer Verlobung im Drehrestaurant des Henninger-Turms in Frankfurt einen Tisch reserviert. Das Lokal war voll, zwei Männer warteten auf einen Sitzplatz. Einer war Asiate, der andere musste Amerikaner sein, das sah Ernst an den viel zu kurzen Hosenbeinen.
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Als nach der nächsten Drehung des Restaurants die beiden Männer immer noch warteten, hatte das junge Paar Mitleid und bat die beiden Herren an ihren Tisch. Man kam ins Gespräch, der Amerikaner erzählte, dass er und sein Partner planten, in Deutschland ein japanisch-amerikanisches Unternehmen für die Fertigung und den Vertrieb von Getrieben aufzubauen. „Getriebe sagten mir nicht viel“, erinnert sich Ernst. „Aber von Anfang an dabei zu sein und ein Unternehmen von Grund auf aufzubauen – das hörte sich gut an.“
Um eine lange Erfolgsgeschichte abzukürzen: Ernst heuerte also bei der neu gegründeten Firma an, er reüssierte dort schnell, erwarb das Unternehmen und baute es aus. Die „Harmonic Drive Antriebstechnik“ in Limburg mit den unterschiedlichsten Anwendungen für Robotik, Luft- und Raumfahrt, Maschinenbau und Medizintechnik wurde ein so erfolgreiches Unternehmen, dass Reinhard und Sonja Ernst eines Tages feststellten: „Wir sind ja richtig reich.“
Dies galt erst recht nach dem Verkauf des Unternehmens. Das kinderlose Ehepaar dachte darüber nach, was mit dem Geld anzufangen sei. Das Ergebnis war 2004 die Gründung der Reinhard & Sonja Ernst-Stiftung. Und diese segensreiche Einrichtung hat nicht nur eine Musikschule in Eppstein ermöglicht, nicht nur nach dem Tsunami in der japanischen Stadt Natori ein Generationenhaus errichtet, sie schenkt der hessischen Landeshauptstadt nun auch ein unübersehbares, architektonisch gelungenes und künstlerisch wertvolles Museum. Entworfen vom greisen japanischen Architekten Fumihiko Maki, Pritzker-Preisträger, gelegen an einer ersten Adresse, der Wilhelmstraße, Hausnummer 1, auf gleicher Höhe mit dem Landesmuseum.
Reinhard Ernst, ein feiner Kerl
Museumsgründer Reinhard Ernst ist das, was man früher „einen feinen Kerl“ genannt hätte und heute vielleicht als „super Typ“ bezeichnen könnte: schnörkellos freundlich, sachlich, gegenwartsklar, ohne Allüren, den Menschen zugewandt. Der schlanke Mittsiebziger mit dem markanten Schnäuzer kleidet sich (wenn er nicht gerade seine Baustelle inspiziert) modebewusst und mit Geschmack. Als Geheimnis seines Erfolgs hat er einmal seinen Umgang mit Menschen genannt. Und wer erlebt, mit welcher Bonhomie er den Mitarbeitern seines ehemaligen Unternehmens begegnet, wie sie sich freuen, ihn wiederzusehen, kann das bestätigen.
Ernst wuchs in einfachen, aber soliden Verhältnissen in Eppstein auf, wurde aber auch geprägt von den aufrechten Grundsätzen seiner Verwandten im Westerwald, wo er regelmäßig die Ferien verbrachte. Mit Literatur, Theater, bildender Kunst kam er als Kind und Jugendlicher so gut wie gar nicht in Berührung. Wie also wurde er zum Sammler?
Die neue Leidenschaft des Reinhard Ernst
In dem Unternehmen, in dem er zunächst als Angestellter Getriebe an den Mann brachte, war Reinhard Ernst häufig im Ausland unterwegs. Die Aufenthalte dauerten meist mehrere Tage. Vor allem an den Sonntagen war es ihm oft langweilig, sodass er eines Tages ins Museum ging. Es war 1985 in Paris. Es regnete, und der Mann aus Deutschland steuerte eher zufällig das Musée Picasso in der Rue de Thorigny an. Er blieb zwei Stunden und war so fasziniert, dass am nächsten Sonntag der Gang in den Louvre folgte.
„Die Mona Lisa ist die Mona Lisa, daran gibt es nichts zu deuten. Ein abstraktes Bild aber gab und gibt mir die Chance auf eine eigene Interpretation.“ – Reinhard Ernst
Es mögen zehn bis fünfzehn Museumsbesuche gewesen sein, bis Ernst feststellte, dass ihn am meisten die abstrakten Bilder reizten: „Die Mona Lisa ist die Mona Lisa, daran gibt es nichts zu deuten. Ein abstraktes Bild aber gab und gibt mir die Chance auf eine eigene Interpretation.“ Immer größer wurde die Lust am Schauen, bald ging Ernst nicht nur in Museen, sondern stöberte in den Galerien nach abstrakter Kunst, kaufte mit bescheidenen finanziellen Ressourcen die ersten Arbeiten auf Papier, weil sie billiger waren als die auf Leinwand.
Im Laufe der Jahre lernte der Autodidakt immer mehr über die Maler, die Künstlergruppen, die Technik, den Markt. Mit wachsendem Wohlstand kamen auch namhafte Maler in den Fokus – irgendwann stellten Reinhard und Sonja Ernst fest, dass die Wände daheim und im Unternehmen keinen Platz mehr boten für neue Bilder. Von nun an gab es ein Depot.
Große Sammlung
Inzwischen ist die Sammlung Reinhard Ernst auf etwa 2000 Werke angewachsen, 960 von ihnen gelten als museumsreif. Drei Schwerpunkte hat die Kollektion abstrakter Werke: deutsche, japanische und amerikanische Nachkriegskunst. Diese Kombination wird sich auch im Museum mit der besten Wiesbadener Adresse „Wilhelmstraße 1“ zeigen. Viele dieser Bilder sind Produkte von Künstlergruppen, vor allem in Deutschland und Japan.
Mit zunehmender Kennerschaft hat Ernst diese Gruppen studiert und deren Werke zusammengetragen, durch gezielte Ankäufe manchmal ganze Ausstellungen „nachgestellt“. Und er hat unbeirrt auf einige Lieblingskünstler gesetzt. Besonders viele Bilder hat er beispielsweise von den Deutschen K. O. Götz und Hubert Berke erstanden. Seine Lieblingsmalerin ist die Amerikanerin Helen Frankenthaler mit ihren wunderbaren großformatigen Farbexplosionen.
Spektakuläres Design und hochkarätige Kunstwerke
Die Idee, die Kollektion einer größeren Öffentlichkeit zu zeigen, lag angesichts der Sammelbegeisterung auf der Hand, sie entspricht aber auch der Einstellung des Industriellen: Er ist nicht der Typ, der sich einsam im Keller am Anblick eines Meisterwerks ergötzt – Eigentum verpflichtet. Reinhard Ernst klopfte bei der Stadt Wiesbaden an, seinem Wohnort seit einem Vierteljahrhundert. Ob er dem Gemeinwesen ein Museum schenken dürfe? Der Magistrat beschloss zunächst vorsichtig eine Bürgerbefragung. Dort trat als wortmächtiger Befürworter Alexander Klar auf, damals Direktor des Landesmuseums. Seine Begeisterung für das Vorhaben war ansteckend, siebzig Prozent der Beteiligten stimmten für das Museum Ernst.
Was vielleicht auch daran lag, dass der Bau und der Betrieb die Stadt kein Geld kosten. Denn selbst wenn die Stiftung künftig keinerlei Gewinne machen sollte, könnte sie für hundert Jahre das Museum unterhalten. Und das Museum ist immer der erste Empfänger der Stiftungsgelder. Sogar für den Ankauf weiterer Bilder ist nach dem Tod des Stifters und seiner Frau finanzielle Vorsorge getroffen.
Vorerst erlebt Reinhard Ernst noch täglich die Freuden und Leiden eines Bauherrn. Im Frühjahr soll das Museum eröffnet werden. Alles wird licht und hell, mit Decken von zwölf Metern Höhe, mit wundervollen Blickachsen, mit Bänken zur Kunstbetrachtung, die Ernst in vielen anderen Museen vermisst. Von außen wirkt der aufgeraute helle Granit aus Vermont mit seiner reflektierenden Struktur wie ein riesiger Zuckerwürfel, die architektonische Geste ist durchaus machtbewusst.
Drinnen präsentieren Ernst und sein Direktor Dr. Oliver Kornhoff das Beste vom Besten aus der Sammlung in kleinen, mittleren und großen Formaten. Das riesigste Exponat in der ersten Hängung wird ein 22 Meter breites Werk des Japaners Toshimitsu Imai sein, über Eck gehängt. Unter den ausgestellten Bildern finden sich Werke von Frank Stella, Robert Motherwell, Helen Frankenthaler, Judith Reigl, Josef Albers, Morris Lewis, Friedel Dzubas und –natürlich – von Karl Otto Götz und Hubert Berke. Große Glasarbeiten von Katharina Grosse und Mad C ergänzen die malerischen Arbeiten.
Im wahrsten Sinne herausragend ist eine 6,50 Meter hohe Skulptur des britischen Bildhauers Tony Cragg, eigens für das neue Haus entworfen; über zwei Stockwerke wird das tonnenschwere, zweiteilige Objekt aus polierter Bronze hier seine Wirkung entfalten.
Reinhard Ernst bietet revolutionäres Museumskonzept
Der Museumsstifter, der in jungen Jahren mit Kunst nichts am Hut hatte, weiß sehr wohl, dass viele Menschen gerade gegenüber abstrakter Kunst ihre Einwände oder Vorurteile haben. Auch deshalb erlaubt sein Museum es, dass zögerliche Besucher einen Blick hineinwerfen dürfen, ohne sich gleich für den Eintritt entschließen zu müssen. Besucher sollen im Museumsshop Besseres und Selteneres geboten bekommen als üblich. Auch die Gastronomie des bewährten Wiesbadener Gastronomen Gollner wird autark sein. Das heißt, man kann im Lokal „Rue 1 by Gollner’s“ oder auf dessen großer Terrasse Platz nehmen, ohne das Museum selber zu betreten, die Öffnungszeiten werden die des Kunsttempels übertreffen.
Das intensivste Augenmerk aber richtet Reinhard Ernst auf Kinder und Jugendliche. Für sie wird der Zugang zum Museum täglich zwischen 8 und 12 Uhr reserviert, bei freiem Eintritt. Hochmoderne Computersimulationen sollen zum spielerischen Umgang mit Farben und Formen anregen, das kunstpädagogische Angebot setzt auf digitale Animation und auf Kunst zum Ausprobieren und Mitmachen.
Rund 80 Millionen Euro investiert Reinhard Ernst über seine Stiftung in den Bau, Anschaffungskosten für die Kunst, Gehälter und Unterhalt nicht gerechnet. Allein die ausgeklügelte Klimaanlage in der Größe eines überdimensionierten Tanzsaals kostet zwölf Millionen. Gedacht hat der Bauherr, der sogar etwas von Solarenergie und Wärmerückgewinnung versteht, selbst an eine Dusche für die Künstler, die sich nach einem Flug aus Amerika oder Japan erfrischen wollen.
Das Depot entspricht höchsten Ansprüchen und übertrifft in seiner Modernität die Lager selbst namhafter Museen. Kameras verhindern, dass die Besucher der Kunst zu nahetreten – das sonst übliche nervige Piepsen wollte der Hausherr vermeiden. Nur ein eigenes Büro hat sich der Stifter nicht gegönnt. Schließlich will er sich künftig nicht ständig einmischen, sondern seinen Leuten Freiheit lassen. An solchen wichtigen Details erweist sich, dass Ernst den Fehler so vieler Selfmademen vermeiden möchte, die überall das letzte Wort haben müssen.
„Stolz? Das ist nicht das richtige Wort. Ich bin einfach glücklich.“ – Reinhard Ernst
Wenn Reinhard Ernst einen durch die Räumlichkeiten führt, die so bald schon die Kunst feiern werden, spürt man seine Begeisterung und die Vorfreude auf das, was kommen wird. Ist er stolz darauf, was er hier schafft? „Stolz?“, fragt er zurück, als würde ihn der Begriff irritieren. „Das ist nicht das richtige Wort. Ich bin einfach glücklich.“
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