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Von ihrem Büro geht der Blick auf die Stadt. Christine Lagarde scheint von allen Präsidenten der Europäischen Zentralbank den engsten Kontakt zu Frankfurt zu pflegen.
Inhalt
Als Christine Lagarde neu war in ihrem Amt als Präsidentin der Europäischen Zentralbank, zog die „Süddeutsche Zeitung“ einen Graphologen zu Rate. Normalerweise analysiert Michael Franz im Auftrag von Unternehmen die Handschriften von Bewerbern; diesmal wurden ihm die Unterschriften von Madame Lagarde und deren Vorgänger Mario Draghi vorgelegt – schließlich fanden oder finden sich die Signaturen der jeweiligen Präsidenten auf allen Euro-Banknoten. Und obwohl eine solche Unterschrift „ein sehr knappes Untersuchungsmaterial“ sei, kam der Schriftsachverständige auf markante Unterschiede: Aus der Handschrift des Italieners las er ab, der Mann sei „nüchtern und pragmatisch“, ebenso reserviert wie souverän. In Lagardes „Breitfederwechselzug“ dagegen sah er „eine schwungvolle, elegante, unkomplizierte Persönlichkeit, die auch locker und spontan sein kann, ihre Stärke liegt in der Kommunikation“.
Christine Lagarde und die Liebe zur Musik
Das Urteil des Graphologen deckt sich bislang mit der allgemeinen Wahrnehmung: Die Frau an der Spitze der EZB ist lockerer als die meisten ihrer (männlichen) Vorgänger, freundlicher, charmanter. Und sie versteckt sich nicht in den Mauern des 185 Meter hohen Turm der Bank im Frankfurter Ostend. Sogar bei der doch sehr ins Persönliche zielenden Musikstunde „Lieblingsstück“ bei den Freunden der Alten Oper machte sie mit. Nach dem Urteil ihrer Zuhörer gab sie mit großem Charme Auskunft über Claude Debussys verträumtes, nur knapp vier Minuten währendes Klavierstück „Reverie“. „Lassen Sie den Geist wandern“, empfahl Madame Lagarde ihren Zuhörern.
„Musik ist Teil meines Lebens, schon frühmorgens beim ersten Blick auf Zahlen und Statistiken.“ – Christine Lagarde
Bekannte, Musik sei ein Teil ihres Lebens. Schon frühmorgens, beim ersten Blick auf Zahlen und Statistiken, höre sie Musik. Bei anderer Gelegenheit war sie mit dem Satz zitiert worden, Puccinis „La Boheme“ sei ihre Lieblingsoper, bei der sie immer wieder weinen müsse.

Die Französin ist die erste Frau an der Spitze der Zentralbank. Das Amt trat sie 2019 an, im selben Jahr, in dem sie vom Forbes Magazin als zweitmächtigste Frau der Welt (nach Angela Merkel) eingestuft wurde. Ihre Vorgänger waren der Niederländer Wim Duisenberg (1998 -2003), der Franzose Jean-Claude Trichet (2003 – 2011) und der Italiener Mario Draghi (2011 – 2019). Ehe die Notenbank am 1. Juni 1998 offiziell gegründet wurde, bereitete der belgisch-ungarische Geldexperte Alexandre Lámfalussy als Präsident des Europäischen Währungsinstituts die Einführung des Euro vor.
Das Institut begann unter Lámfalussys Ägide damals im ehemaligen BfG-Hochhaus in der Innenstadt auf bescheidenen zwei Etagen. Doch bald wuchs mit der Zahl der Mitarbeiter auch die der Stockwerke. Auch die EZB blieb dem 1977 erstmals bezogenen vierzig Geschosse hohen BfG-Hochhaus treu, die Mitarbeiter erinnern sich gern an die zentrale Lage gegenüber Schauspiel und Oper, an die fußläufige Nähe von Läden und Restaurants.

Ihren Sitz im Frankfurter Ostend hat die EZB mit ihrer kühnen Architektur erst seit dem November 2014. Die offizielle Adresse lautet Sonnemannstraße 20. So kuschelig wie in dem Hochhaus in der Innenstadt wurde es nun nicht mehr, dafür natürlich moderner und funktionaler. Die markanten Umrisse der EZB sind von Weitem sichtbar, umgekehrt erlaubt der Turm einen wunderbaren Ausblick. Präsidentin Lagarde schaut von ihrem Büro auf die Stadt, der Ausblick auf der anderen Seite gilt Offenbach.
Frankfurt und die EZB-Präsidenten
Frankfurt und die EZB-Präsidenten – das war nie eine intime Liebesgeschichte. Was erstens daran liegt, dass kaum ein Beruf denkbar wäre, der internationaler ausgerichtet ist als der an der Spitze eines europäischen Währungsverbundes aus zwanzig Mitgliedstaaten, als da wären Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien und Zypern. Ist ein Präsident nicht gerade auf Reisen, so ist sein Tagesablauf in Frankfurt extrem dicht getaktet. Konferenzen, Telefonate, Besprechungen lösen einander ab, alle zwei Wochen tagt der EZB-Rat, er besteht aus den sechs Direktorium-Mitgliedern und den zwanzig Präsidenten der nationalen Zentralbanken.

Neben dieser zeitlichen Beanspruchung spielt auch der Umstand eine Rolle, dass bisher noch kein Präsident seine Familie an den Main mitgenommen hatte. Das würde sich wahrscheinlich erst ändern, wenn eine jüngere Person mit Kindern ins Amt käme, aber das ist unwahrscheinlich, weil die Position des obersten Währungshüters große Erfahrung und langjährige Expertise voraussetzt. Immerhin wohnen seit Trichet die Präsidenten in einer Wohnung im Westend, die von der EZB gekauft wurde. Duisenberg und in den ersten Jahren bis zum Umzug auch Trichet hatten noch in der alten Bundesbankvilla in Kronberg gelebt, die einst auch Bundesbank-Präsident Karl-Otto Pöhl mit seiner Familie bewohnt hatte.
Christine Lagarde: Zwischen Geburtstagsfeier im Taunus und Einkaufen im Westend
Von allen bisherigen Präsidenten scheint Christine Lagarde noch den direktesten Draht zu Stadt und Umland zu pflegen – sie wurde schon auf einer privaten Geburtstagsfeier im Taunus gesichtet und soll gelegentlich in den Supermärkten im Westend einkaufen. Nicht bekannt ist, ob sie inzwischen ihre Garderobe selber zusammenstellt oder sie sich noch immer von ihrer Assistentin kaufen lässt, die ihren Geschmack und ihre Konfektionsgröße kennt. Dass sie intensiver am Leben der Stadt teilnehmen würde als ihre Vorgänger, war gleich in ihrem ersten EZB-Jahr zu spüren: Lagarde amüsierte sich 2019 als Gast der Operngala.
Umgangssprache in der Europäischen Zentralbank ist Englisch. Berühmt und geradezu zum rhetorischen Klassiker wurden vor allem jene drei englischen Vokabeln, die Mario Draghi in der Eurokrise am 26. Juni 2012 in London sprach: „Whatever it takes.“ Komplett lautete der Satz: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.” Jean-Claude Trichet lernte Deutsch, war aber erstaunt und erfreut, wie viele Menschen am Main mit ihm in seiner Landessprache parlieren wollten.
Auch Christine Lagarde spricht natürlich fließend Englisch, schließlich war sie Chefin des Internationalen Währungsfonds in Washington, D.C. Und schon als Jugendliche hatte die am 1. Januar 1956 geborene Pariserin, älteste Schwester von drei Brüdern, eine Mädchenschule in den USA besucht. Lagarde studierte unter anderem Jura und wurde eine erfolgreiche Anwältin. Als erste Frau leitete sie die internationale Kanzlei Baker McKenzie, die heute fast 5.000 Anwälte in aller Welt beschäftigt.
Christine Lagarde wechselte aus der Politik an die Spitze der EZB
Die Jahre von 2007 bis 2011 verbrachte Lagarde in der französischen Politik. Dort bekleidete sie verschiedene Ministerämter, zuletzt zuständig für Finanzen. Das war eine gute Vorbereitung auf die nächste Karrierestufe an der Spitze des Weltwährungsfonds IMF (International Monetary Fund). 2019 wurde Lagarde Nachfolgerin von Mario Draghi – als erste Frau, erste Juristin und erste EZB-Chefin, die zuvor keine Notenbank geleitet hatte.
Die 1,80 Meter große, überschlanke Tochter eines Literaturdozenten und einer Lateinlehrerin, die in Le Havre in der Normandie aufwuchs, ist eine Frau mit Eigenschaften. Die geschiedene Mutter zweier Söhne war als Jugendliche eine begeisterte Synchronschwimmerin, sie liebt Yoga, ist praktizierende Vegetarierin und trinkt keinen Alkohol. Als Musikliebhaberin müsste sie eigentlich auch ein Herz haben für die Europa-Kulturtage der EZB.

Diese groß angelegte Veranstaltungsreihe ist durch Corona ins Dümpeln geraten und besteht jetzt fast nur noch aus dem großen Freiluftkonzert mit dem hr-Sinfonieorchester auf der Weseler Werft, mit Blick auf die Türme der Notenbank. Früher stand jeweils ein Land des Euroraumes im Mittelpunkt der Veranstaltungsreihe mit Konzert, Oper, Tanz und Literatur. Das war zwar nicht das Kerngeschäft der EZB, aber die Tage trugen zur Belebung der Frankfurter Kultur entscheidend bei. Alle EZB-Präsidenten engagierten sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für diese 2003 ins Leben gerufene Veranstaltungsreihe. Mario Draghi sorgte sogar bereits in seiner Zeit als italienischer Notenbank-Gouverneur für Unterstützung: Ohne seine Vermittlung wäre das Engagement von Maestro Claudio Abbado nicht finanzierbar gewesen.
Nun hätte also Madame Lagarde die Chance, die Kulturtage kraftvoll wiederzubeleben, zumal sich die EZB nach dem Geschmack vieler Frankfurter zu sehr von der Stadt, in der sie ihren Sitz hat, abschottet. Zuzutrauen wäre es der charmanten Französin mit dem Faible für Musik.
„As I have said many times, if it had been Lehman Sisters rather than Lehman Brothers, the world might well look a lot different today.“ – Christine Lagarde
Christine Lagarde hat nie damit geprahlt, als erste Frau in Spitzenpositionen gelangt zu sein. Dass sie von den Fähigkeiten ihres Geschlechts überzeugt ist – weniger Machtgehabe, mehr Gemeinschaftssinn und Kompromissfähigkeit – , wurde aber sonnenklar, als sie von der Finanzkrise 2007/2008 sprach: „As I have said many times, if it had been Lehman Sisters rather than Lehman Brothers, the world might well look a lot different today.” Die Welt würde also anders aussehen, wenn die zusammengebrochene amerikanische Bank nicht von Männern, sondern von Lehman-Schwestern geleitet worden wäre.
Wie alt ist Christine Lagarde?
Mit 69 Jahren steht Christine Lagarde an der Spitze der europäischen Finanzwelt. Geboren am 1. Januar 1956, leitet sie als Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) die Geldpolitik des Kontinents – direkt von Frankfurt am Main aus.
Ihr Alter ist dabei weniger eine Zahl als die Bilanz einer Karriere, die sie durch die Schaltzentralen globaler Macht geführt hat: vom französischen Finanzministerium über den IWF in Washington bis an die Spitze einer Weltkanzlei. Diese geballte Expertise macht die Mainmetropole nun zum Kulminationspunkt ihres Wirkens.
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