Ideologien sind ihr ein Gräuel. Die Chefvolkswirtin der Helaba vertraut lieber Daten und Fakten. Lange Zeit war Gertrud Traud die einzige Frau in dieser Position bei einer großen deutschen Bank. Allein unter lauter Männern zu sein, hat ihr nichts ausgemacht. „Ich habe mich nie benachteiligt gefühlt und mich auf den Wettkampf eingelassen“, sagt sie dem Top Magazin in der 44. Etage des Maintowers.
Auf Traud wird gehört. Weil sie originell ist. Und glasklar. Für 2023 fällt ihr legendärer Ausblick auf die Wirtschaft nicht gerade euphorisch aus. Zur Panik besteht aber kein Grund. Die Weltwirtschaft wird demnach wachsen, wenn auch etwas verhaltener. Deutschland fällt jedoch in eine Rezession. „Vieles ist bei uns kompliziert geworden. Manchmal frage ich mich, ob hierzulande überhaupt noch Industrie erwünscht ist“, sagt die Ökonomin, die im Studium als Wahlfach Ökonometrie wählte – eine knallharte Mischung aus Wirtschaftstheorie, Statistik und Mathematik.
Gertrud Traud: „Deutschland fällt zurück“
Statt Chancen zu sehen, würden bei uns Bedenken in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, bemängelt die prominente Bankerin bei unserem Treffen. Man tue sich schwerer als anderswo. Auch bei der Bereitstellung von Energie für ausgefallenes russisches Gas. Frackinggas aus heimischen Quellen sei offenbar tabu. „Dafür schippert man es lieber aus den USA quer über den Atlantik hierher. Ist das ökologischer?“, fragt sie. Nicht einmal zum Weiterbetrieb der verbliebenen Atommeiler bis 2024 habe sich die Politik entschließen können. „Dabei brauchen wir Energiesicherheit. Energieverzicht und Frieren sind keine langfristigen Lösungen.“
„Autoindustrie, Chemie, Pharma, Landwirtschaft – überall scheinen Gefahren und Feinde zu lauern. Unsere Politik misstraut den Unternehmen.“ – Gertrud Traud, Helaba
Nachbarländer legten einfach los statt endlos zu diskutieren und zu bürokratisieren. Von einer Zeitenwende hat die streitbare Ökonomin jedenfalls noch nichts gespürt. Sie erwartet für das kommende Jahr beim Bruttoinlandsprodukt ein alarmierendes rotes Minus von 0,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Während die Eurozone nach dem Basisszenario der Helaba immerhin um 0,2 Prozent wächst und die Vereinigten Staaten bei einem Plus von 0,5 Prozent liegen werden.
Industrie noch gewollt?
„Autoindustrie, Chemie, Pharma, Landwirtschaft – überall scheinen Gefahren und Feinde zu lauern. Unsere Politik misstraut den Unternehmen“, kritisiert die quicklebendige Managerin. Es sei keine Lösung, auf Wachstum zu verzichten. Man solle sich ruhig auf empirische Tatsachen beziehen statt alles so zu drehen, dass es den eigenen Wünschen entspreche. „Potenziale lassen sich berechnen und in Zahlen ausdrücken“, mahnt die schlanke und stets perfekt gekleidete Bankdirektorin. 2023 wird sie 60 Jahre alt. Man sieht es ihr nicht an. Stets neugierig sucht sie nach den jeweils richtigen Antworten. Die deutschen Medien wenden sich gern an sie, wenn es um starke O-Töne geht.
Buch-Tipp
- Finanzhai, Der (Author)
Seit 2005 arbeitet die Osthessin als Chefvolkswirtin bei der Helaba. Sie ist auch „Head of Research & Advisory“. Prognosen haben sie immer gereizt, zumal sie häufig richtig lag. Wenn auch nicht 2022. „Game changer war der unerwartete Krieg Russlands gegen die Ukraine“, rechtfertigt die Osthessin, warum sich ihre positiven Erwartungen an das abgelaufene Jahr nicht erfüllten. Mit Putins Invasion löste sich die Vorhersage im Februar in nichts auf.
Schwierige Zeiten
Für das kommende Jahr wünscht sie den Deutschen mehr Mut. Die schon durch die Corona-Pandemie bewirkte Inflation habe der bewaffnete Konflikt noch einmal kräftig angeschoben. „Der Höhepunkt ist jedoch überschritten“, schätzt sie. Die Notenbanken hätten verspätet reagiert, nun aber „ihre Geldpolitik in einem vor Kurzem noch unvorstellbaren Tempo gestrafft“. Das mit einer 60-Prozent-Wahrscheinlichkeit taxierte Basisszenario der Helaba beziffert die durchschnittliche Inflationsrate 2023 auf 6 Prozent in Deutschland, 5,3 Prozent in der Eurozone und 4 Prozent in den USA.
Ausblick auf 2023 von Dr. Gertrud Traud
Die richtige Dosierung bei den Zinssteigerungen und den fiskalpolitischen Unterstützungsmaßnahmen seien eine „Gratwanderung“, gibt sie zu. Einerseits solle sich die Teuerung nicht verfestigen. Andererseits möchte die Politik die Konjunktur nicht abwürgen und negative Wirkungen auf die Realeinkommen kompensieren – bei uns durch Preisdeckel, direkte Zahlungen und zeitweise niedrige Verbrauchssteuern. „Dabei wird allerdings wenig Rücksicht auf die Verschuldung oder die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen genommen“, moniert sie.
Den Leitzins der Europäischen Zentralbank erwartet Traud im ersten Quartal bei 2,75 Prozent und den Rest des Jahres auf diesem Niveau. In den USA rechnet sie mit einem Leitzins von 4,38 Prozent. Die Deutschen müssen sich darauf einstellen, dass die Zinsen die Inflation nicht ausgleichen werden. Kann man das zurückgelegte Vermögen trotzdem bewahren?
Gertrud Traud empfiehlt: Aktien gegen Inflation
Die in einem Dorf in der Rhön aufgewachsene Finanzspezialistin empfiehlt, es mit Aktien zu versuchen. Die Signale für eine wieder anziehende Wirtschaft im Laufe des Jahres seien gar nicht so schlecht. Die Lieferkettenproblematik lasse nach, vor allem weil China seine Null-Covid-Politik wohl lockern werde. Das weltwirtschaftliche Angebot an Gütern sollte nach Ansicht von Traud dementsprechend wieder zunehmen, was den Preisdruck verringern würde. Derzeit könnten sich viele Menschen eine Verbesserung der Lage kaum vorstellen. „Die Unsicherheit ist so hoch wie noch nie.“ Wer kühl und realistisch bleibe, könne als Anleger von dem übertriebenen Pessimismus profitieren.
„Jetzt bei Aktien einzusteigen, wo die Kurse gefallen sind, ist ein guter Zeitpunkt. Die Signale stehen ganz klar auf bullish“ – Gertrud Traud, Helaba
Denn bei aller Kritik besitze Deutschland noch immer ein stabiles wirtschaftliches Fundament. Viel spreche für ein „diversifiziertes Aktienportfolio“, das nicht auf Schulden aufgebaut sei, glaubt Gertrud Traud. „Mit Aktien ist ein Investor flexibel. Er kann Risiken über verschiedene Branchen, Länder und Währungen hinweg verteilen. Außerdem lassen sie sich wieder leicht zu Geld machen“, erläutert sie. Und Dividenden gebe es auch noch.
„Jetzt einzusteigen, wo die Kurse gefallen sind, ist ein guter Zeitpunkt“, meint sie. Die angesehene Analytikerin rechnet damit, dass der Dax im Jahr 2023 wieder auf 16.000 Indexpunkte steigen wird. „Die Signale stehen ganz klar auf bullish“, lautet ihr Fazit.
Schweiß auf der Stirn
Dass trotzdem ein heikles Jahr bevorsteht, hat das Orakel von der Neuen Mainzer Straße in gewohnt plastischer Schilderung mit dem Bild einer Bergtour deutlich gemacht. „Der Blick nach vorn lässt selbst erfahrenen Wanderern den Schweiß auf die Stirn treten“, hat sie in ihrer aktuellen Prognose geschrieben. „Abgründe gähnen zu beiden Seiten des Grats, auf dem die globale Konjunktur voranstolpert. Gleichzeitig müssen Entscheidungen über den weiteren Routenverlauf unter Zeitdruck und mit unvollständigen Informationen getroffen werden. Die Herausforderungen für Sherpas in Notenbanken und Regierungen waren selten größer als heute.“
Soweit der szenische Einstieg, der ihr auch diesmal großen Spaß gemacht hat. Obwohl die Zeiten alles andere als einfach sind. Selbstverständlich stellt die Chefvolkswirtin der Helaba gegenüber dem Top Magazin klar, dass sie keine Seherin sei, sondern ihre Kernaussagen ausschließlich aufgrund belastbarer Daten treffe.
Gertrud Traud: „Kein Grund zur Depression“
Es könne auch schlimmer kommen als erwartet. Denn die globale Wirtschaft sei 2022 von ihrem Wachstumspfad erheblich abgekommen. Eine tiefe Rezession sei noch immer denkbar. „Aber wir bemessen die Wahrscheinlichkeit nur mit 30 Prozent.“
Ein Wetterwechsel mit strahlendem Sonnenschein ist allerdings noch unrealistischer. Dafür gebe es nur eine Zehn-Prozent-Chance. Die Super-Optimisten müssen sich also noch etwas gedulden. Weder der Ukraine-Krieg noch die Nachwirkungen der Pandemie verschwinden laut Traud über Nacht.
Unverändert bestehe die Gefahr einer Blockbildung mit China und Russland an der Spitze, stellt sie fest. Die Expertin plädiert gleichwohl nicht für einen neuen Protektionismus. „Der würde mehr schaden, als er nützt.“ Statt einer echten „Deglobalisierung“, die ein Risiko bleibt, erwartet sie eher eine Neuordnung der Globalisierung. Dafür spricht der stärkere Anstieg des Welthandels relativ zur Produktion seit 2020. Effizienz und Diversifikation der Lieferketten stehen bei den Unternehmern jetzt im Fokus.
Gertrud Traud ist eine begehrte Rednerin
Dass ihre Statements nie unverbindlich sind, ist Gertrud Trauds Geheimnis. Weil die Tochter eines Waldarbeiters, der zum Forstwirt aufstieg, das Konkrete und auch das Unbequeme schätzt, ist sie in ganz Deutschland zu einer begehrten Keynote-Speakerin geworden.
Sie wohnt mit ihrem Mann in einem idyllischen Ort an der Bergstraße. Dort könne sie wunderbar auftanken. Mit der Bahn sei sie in nicht mal einer Stunde in Frankfurt. „Ich mag die Zugfahrten, weil ich auf der Strecke dazu komme, in Ruhe Wichtiges zu lesen.“
Kraft hat sie schon immer gebraucht und gehabt. Sie besaß schon in ihrer Jugend Elan. Sie gehörte in der Schule immer zu den Besten. „Ich war eine Streberin“, erinnert sie sich mit breitem Lächeln. Gleichzeitig verfolgte sie viele Interessen. Sie musizierte auch in einem Mandolinenorchester. Als die Lehrerin die Leitung aufgab, übernahm sie kurzerhand das Ensemble. „Ich organisierte das Programm und die Auftritte, vereinbarte die Gage, führte das Konto und verantwortete die Ausgaben.“ An der Uni in Marburg begann sie nach dem Abitur Biologie und Chemie zu studieren. „Doch ich habe mich zu Tode gelangweilt.“ Sie brach ab.
Buch-Tipp
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Gertrud Traud: Stets mit eigenem Kopf
Für ihre Eltern war die Selbstfindungsphase der Tochter zunächst eine Katastrophe. Hatten sie doch so große Hoffnungen in das Mädchen gesetzt. Gertrud Traud wollte trotzdem erst einmal Lebenserfahrungen sammeln, auch wenn sie ein schlechtes Gewissen plagte. Sie ging als Au-Pair-Mädchen für zwei Jahre ins Ausland, zunächst ins französische Metz und dann gleich nach Washington D.C., in die amerikanische Hauptstadt.
Als sie zurückkam, besaß sie klare Vorstellungen. Sie begann in Mainz an der Johann-Gutenberg-Universität mit Volkswirtschaft, machte ihr Diplom und setze noch eine Promotion drauf. „Ich wollte die Ehre meiner Familie retten, die mir die Möglichkeiten gegeben hat“, erzählt sie. „Ich hatte endlich den richtigen Weg eingeschlagen und wunderbare Menschen kennengelernt.“ Sie wohnte in einer WG, jobbte im Restaurant Bootshaus auf der anderen Rheinseite und lernte durch das Uni-Sportangebot, Tennis zu spielen. Und sie orientierte sich an Professoren, die für das Fach begeistern konnten.
„Studieren bedeutet Denken lernen und nicht nur Fragestellungen aus der aktuellen Praxis zu behandeln“ – Gertrud Traud, Helaba
Noch heute hat die Volkswirtin eine enge Bindung an ihre Alma Mater, die 2021 ihren 75. Geburtstag gefeiert hat. 75 Absolventen wurden aus diesem Anlass vorgestellt, fünf in einem Film porträtiert. Gertrud Traud gehörte zu diesem kleinen Kreis. Das habe sie schon als große Auszeichnung empfunden, bekennt sie.
Denken lernen
„Studieren bedeutet Denken lernen und nicht nur Fragestellungen aus der aktuellen Praxis zu behandeln“, hat Gertrud Traud einmal gesagt. „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie.“ Diese Einsicht leitet sie. Nach Stationen bei der Bank Julius Bär und der Bankgesellschaft Berlin landete sie mit 42 Jahren gleich als Chefvolkswirtin bei der Helaba. „Ich genieße das gute Klima und die Freiheiten, die einem hier eingeräumt werden.“
Auch wenn es derzeit nicht so populär ist, glaubt Gertrud Traud, dass soziale Faktoren eine Karriere stärker behindern als identitäre Merkmale wie Frau oder Hautfarbe. „Kinder aus dem gehobenen Bildungsbürgertum haben meist sehr gute Netzwerke, die ihnen helfen, erfolgreich zu sein.“ Sie engagiert sich, um Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit mit Leben zu erfüllen. Sie unterstützt beispielsweise die Initiative „Arbeiterkind.de“, die mehr Schüler aus sozial schwächeren Schichten zum Studium verhelfen will. Sie ist auch Ehrenmitglied beim Frankfurter ZONTA Club, der begabte junge Frauen und Mädchen fördert, damit sie ihr Talent entfalten können.
Die gegenwärtige Genderdebatte findet Gertrud Traud bisweilen etwas moralisierend und ermüdend. Sie hat gar nichts gegen temporäre Quoten. Aber solche Vorgaben seien immer etwas einseitig und müssten in Hinblick auf ihre praktischen Auswirkungen überprüft werden. „Letztlich bilden wir Menschen eine Einheit und müssen gemeinsam Lösungen finden, um Herausforderungen zu meistern.“
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