Thomas Guggeis war 24, als er den Durchbruch schaffte. Im kommenden Jahr wird der junge Dirigent Generalmusikdirektor der Frankfurter Oper. Begegnung mit einem unprätentiösen Ausnahmetalent.
So beginnen moderne Märchen: Es war einmal ein Opernintendant. Der hieß Bernd Loebe. Er fuhr im März 2017 nach Berlin, um an der Staatsoper Unter den Linden noch einmal Christoph von Dohnányi zu erleben. Doch drei Tage vor der Premiere von „Salomé“ schmiss der 88-jährige Maestro hin – ein Konflikt mit Regisseur Hans Neuenfels war eskaliert. Es sprang ein der 24 Jahre alte Märchenprinz äh Korrepetitor Thomas Guggeis. Fünf Stunden vor der Generalprobe erfuhr er von Dohnányis Absprung.
Er dirigierte zum ersten Mal öffentlich, und dann gleich bei einer Premiere. Der Frankfurter Opernintendant war genauso begeistert wie das Berliner Publikum. „Seit diesem Tag habe ich Thomas Guggeis‘ Entwicklung intensiv verfolgt“, sagt Loebe heute. Und vier Jahre später machte er den Debütanten von damals zum künftigen Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt und zum Leiter der Museumskonzerte: ab 2023, für fünf Jahre, mit einer Dirigierverpflichtung von 35 Abenden pro Saison. So beginnen Märchen.
Als Loebe im Oktober vergangenen Jahres den neuen GMD aus dem Ärmel schüttelte, hatte er keine Scheu vor großen Worten: „Von einem singulären Talent zu sprechen, ist untertrieben.“ In der Tat muss Guggeis, als Gott die Talente verteilte, gleich zwei Mal zugegriffen haben. Er studierte nämlich nicht nur Musik, sondern auch Physik. Die Musik war ihm ein Herzensanliegen, seit er sich als Jugendlicher mit fünfzehn, sechzehn ernsthaft mit ihr beschäftigte, inklusive Jazz und Neuer Musik. Und die Quantenphysik, die ihn gleichfalls faszinierte, sollte den Lebensunterhalt sichern, falls es mit den musikalischen Ambitionen nicht klappte. Der Physik widmete er sich zeitgleich mit dem Studium des Dirigierens in München, das er in Mailand fortsetzte.
Auf Italien war seine Wahl gefallen, um hier Italienisch so gut zu beherrschen, dass er auch die italienische Musik besser verstehen konnte. Nur am Rande sei erwähnt, dass der junge Mann neben Italienisch auch Englisch, Französisch und Russisch spricht. Er findet Sprachkompetenz für einen Dirigenten sehr wichtig – wobei er das R in „Sprachkompetenz“ richtig schön bayerisch rollt.
Thomas Guggeis: Unprätentiöses Ausnahmetalent
Wer erwartet, der Vielbegabte und Früherwählte sei abgehoben oder gar arrogant, wird eines Besseren belehrt: Thomas Guggeis ist ein freundlicher, ernsthafter Zeitgenosse, der ohne jeden Aplomb auskommt und herzlich lachen kann. Bei vielen Fragen denkt er erst intensiv nach, ehe er antwortet und runzelt dabei konzentriert die Stirn. Von einem Musterknaben oder Streber hat er gar nichts. Zu seiner unprätentiösen Art passt auch, dass er zwar die Koordination seiner Gastauftritte seiner Wiener Agentur überlässt, aber die Reisen selber plant. Wobei er die Zahl seiner auswärtigen Auftritte in Grenzen hält: „Was ich mache, mache ich lieber gut.“
Diese Haltung, alles zu geben, alle Energie des Orchesters abzurufen, war wahrscheinlich auch ursächlich für seinen Einsatz damals vor fünf Jahren, als er bei der „Salomé“-Premiere einsprang. Weder Panik noch Vorfreude hätten ihn ergriffen, wohl aber neben wahnsinniger Aufregung ein riesiger Tatendrang. Aber in gewisser Weise sei die Ablösung am Dirigentenpult für das Orchester auch ein Befreiungsschlag gewesen, nach dem vorangegangenen Konflikt Dohnányis mit Regisseur Neuenfels: „Ich hatte mich zwar wahnsinnig gut vorbereitet, aber vor allem hatte ich das Gefühl, getragen zu werden vom Orchester – es war eine Riesenfreude.“
Wie schafft es eigentlich ein Dirigent, zumal ein so junger wie Thomas Guggeis, sich den Respekt eines Orchesters aus lauter Profimusikern zu verschaffen? Die Antwort kommt ausnahmsweise schnell: „Durch musikalisches Wissen und durch den Respekt vor den Musikern.“ Natürlich müsse man extrem sorgfältig vorbereitet sein, natürlich müsse man jeden einzelnen Part eines Musikers besser kennen als der selbst; nur durch dieses Wissen könne man sich eine selbstverständliche Autorität erarbeiten. „Und ich muss als Dirigent signalisieren: Ich bin auf euch angewiesen. Ich kann mit meinen Händen ja keinen Ton erzeugen, die Partitur wird durch die Musiker zum Klingen gebracht.“ Alle Kritik, die ein Dirigent immer äußern müsse, das sei nun einmal seine Rolle, habe einherzugehen mit der Achtung vor dem Orchester.
Ich muss als Dirigent signalisieren: Ich bin auf euch angewiesen. Ich kann mit meinen Händen ja keinen Ton erzeugen, die Partitur wird durch die Musiker zum Klingen gebracht.
Warum studierte er überhaupt Orchesterdirigieren, warum nicht allgemeine Musikwissenschaft oder Klavier? Diese Anregung bekam er von seinem Musiklehrer. Als er ihm erzählte, er wolle sich auf die Aufnahmeprüfung für Klavier vorbereiten, sagte der Pädagoge, um die Strukturen und Zusammenhänge der Musik zu durchdringen, sei doch das Dirigieren der beste Weg. Diese Empfehlung fiel auf fruchtbaren Boden. Dabei kommt Thomas Guggeis, dessen Bruder Maschinenbau studiert, nicht aus einer musikalisch „vorbelasteten“ Familie – der Vater ist Geschäftsführer der König Ludwig Schlossbrauerei in Fürstenfeldbruck, die Mutter ehemalige Steuerfachangestellte; lediglich Onkel Edgar Guggeis war Schlagzeuger, Solopaukist unter Sergiu Celibidache bei den Münchner Philharmonikern.
Tmoas Guggeis‘ Frühe der Begabung
Mit dem Schlagzeug begann Thomas Guggeis dann auch seine musikalische Früherziehung, als er vier Jahre alt war. Doch so richtig warm mit dem Instrument wurde er nicht: Als er sieben war, hörte er mit dem Trommeln wieder auf. Und fand mit zehn sein Instrument, das Klavier. Jemand, der in der Schule so gut war, dass er auf die Hausaufgaben wenig Zeit verwenden musste, hatte viel Energie frei für die intensive Beschäftigung mit den weißen und schwarzen Tasten. Nach dem Einserabitur am Straubinger Bruckner-Gymnasium begann das Doppelstudium und danach war es nicht mehr weit bis zur musikalischen Karriere.
Die setzte ein, als er von 2016 bis 2018 als Assistent von Daniel Barenboim an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin engagiert wurde. Der Höchstleistungs-Maestro muss früh Gefallen gefunden haben an dem ernsthaften, lernbereiten jungen Mann, denn er schenkte ihm eine Partitur von Verdis „Macbeth“ mit der Widmung: „Für Thomas, in Bewunderung und Dankbarkeit.“ Der Beschenkte sagt auf die Frage, was er an seinem großen Förderer bewundere: „Dass er ein musikalischer Gigant ist und sich dennoch so viel ironische Distanz zu sich selbst bewahrt hat, um die hymnischsten Komplimente charmant wegzulächeln.“ Aber umgekehrt? Guggeis denkt lange nach und meint dann, vielleicht sei es ebenfalls die Kombination aus dem Streben nach tiefer, ernsthafter Durchdringung der Musik mit einem „Sich-selber-nicht-zu-ernst-nehmen“. Möglicherweise fand Barenboim aber auch Gefallen an der Frühe der Begabung seines Adepten – er selber gab ja mit dreizehn sein erstes umjubeltes Konzert als Pianist.
Thomas Guggeis: Alle Energie für Frankfurt
Aus Daniel Barenboims Talentschmiede sind schon viele Dirigenten hervorgegangen, nicht zuletzt Frankfurts langjähriger Generalmusikdirektor Sebastian Weigle. Wenn Guggeis ihn zur Spielzeit 2023/24 ablöst, war Weigle fünfzehn Jahre in Frankfurt. In Fachkreisen wird bereits über die Frage gemunkelt, ob sein Nachfolger nach fünf Jahren Vertragslaufzeit nicht bereits zu noch Höherem berufen wird.
Doch zunächst bereitet sich Thomas Guggeis mit aller Energie auf Frankfurt vor. Mozart wird eine große Rolle spielen, den Guggeis übrigens fast immer ohne Taktstock dirigiert, nur mit den Händen. Richard Strauss und Richard Wagner werden im Repertoire eine Rolle spielen. Und zeitgenössische Musik aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Mit Bernd Loebe steht der Dirigent, der bei seinem Frankfurter Amtsantritt dreißig sein wird, in regem Austausch. Loebe, dessen eigener Vertrag bis August 2028 läuft, sagt, die Fragen, die ihm der junge Mann stelle, seien erfrischend und herausfordernd. Und Guggeis preist an seinem künftigen Intendanten, dass der „so unglaublich neugierig, jung geblieben und begeisterungsfähig“ sei: „Er lebt für die Musik, geht in jede Vorstellung und hat extrem viel Ahnung von Sängern, Orchestern, organisatorischen Abläufen, von allem.“
Gute Voraussetzungen also für den Start in der Mainmetropole. Zumal Thomas Guggeis seinen künftigen Wirkungsort schätzt: „Ich bin ein Fan von Frankfurt. Ich finde es spannend, wie unterschiedliche Welten hier aufeinanderprallen: das Elend im Bahnhofsviertel, direkt daneben die Hochhäuser als Symbole der kapitalistischen, urbanen Welt und dann der Römer, der für bürgerliche Werte und Traditionen steht.“ Das Publikum und die Fachwelt dürfen also gespannt sein auf einen musikalischen Märchenprinzen. Der auch noch ein netter Mensch ist.
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