Es gibt diesen einen Moment im Jahr, in dem der Lärm der Metropole für eine Weile verstummt. In dem die profane Geschäftigkeit des Alltags einer fast heiligen Stille weicht, die nur vom leisen Knistern der Erwartung erfüllt ist. Es ist der Moment, bevor der erste Ton des Rheingau Musik Festivals erklingt, jener Ton, der einen ganzen Sommer einläutet. In diesem Jahr beginnt er am 21. Juni, und mit ihm eine jener zauberhaften Auszeiten, in denen sich die Region auf das besinnt, was ihre Seele ausmacht: die Symbiose aus Kultur und Landschaft.
Der Auftakt selbst ist ein Weiheakt in zwei Teilen. Im Kloster Eberbach, diesem ehrwürdigen Resonanzkörper der Geschichte, und im mondänen Kurhaus Wiesbaden, wird das Festival eröffnet. Das hr-Sinfonieorchester und der MDR-Rundfunkchor, geleitet von Alain Altinoglu, spannen den Bogen von virtuoser Geigenkunst einer Diana Adamyan bis zu Maurice Ravels spielerischer Eleganz, dargeboten von Beatrice Rana. Es ist ein Beginn, der nicht nur ein Programm eröffnet, sondern einen Raum – einen Denk- und Fühlraum für die kommenden Wochen.
Und was für ein Raum das ist. Die Dramaturgie dieses 38. Festivals liest sich wie eine Landkarte der musikalischen Sehnsüchte. Sie führt ins sonnendurchflutete Spanien, lässt die unsterbliche Verführerin „Carmen“ in immer neuen Gewändern tanzen und verneigt sich vor Maurice Ravel, dem Meister der schillernden Oberfläche und der tiefen Melancholie. Es ist ein Programm, das nicht nur Töne aneinanderreiht, sondern Assoziationen weckt, Geschichten erzählt und den Zuhörer auf eine Reise schickt.
Die Reiseführer sind dabei von erlesener Güte. Es ist ein wahres Gipfeltreffen, das Intendant Michael Herrmann da versammelt hat. Die Granden der Klassik, eine Anne-Sophie Mutter, ein Daniel Barenboim, ein Igor Levit, geben sich die Ehre, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Daneben sorgen Künstler wie Till Brönner oder Dee Dee Bridgewater für jene lässige Eleganz, die beweist, dass wahrer Stil keine Genregrenzen kennt. Es ist dieser kuratorische Wagemut, der das Festival lebendig hält und es vor musealer Erstarrung bewahrt.
Doch die größte Bühne bleibt der Rheingau selbst. Die Musik verlässt die anonymen Konzertsäle und nistet sich ein in den Orten, die ihre eigene Geschichte atmen: in den Basiliken und Schlössern, zwischen Rebstöcken und in den kühlen Kellern der Weingüter. Sie erobert sich sogar neue Territorien, wie das lichterfüllte Museum Reinhard Ernst in Wiesbaden oder das Gestüt Schafhof in Kronberg, und beweist, dass große Kunst überall zu Hause sein kann, wo man ihr mit offenen Ohren und Herzen begegnet.
Mehr als ein Festival, ist dieser Sommer ein Ritual der Zusammenkunft, ein kollektives Aufatmen. Es ist ein temporärer Idealzustand, in dem für 155 Konzerte lang die Schönheit den Takt vorgibt. Der Sommer kann beginnen. Und für einige Wochen klingt er im Rheingau einfach ein wenig besser als anderswo.
