Ernst Gerhardt ist heute 100 Jahre alt geworden. „Ein Segen“, wie er findet, auch wenn ihm das Feiern mittlerweile ein bisschen schwerer fällt.
Der 1921er Wein aus Deutschland gilt als einer der Besten des 20. Jahrhunderts, sagen Kenner. Es ist offenbar nicht nur ein guter Jahrgang für Trauben gewesen. Auch Ernst Gerhardt ist ein 1921er. Er wurde am 10. September des Jahres in Frankfurt Bockenheim geboren. Ein Jahrhundertmann – der seiner Heimatstadt bis auf ganz wenige Jahre im Krieg immer treu geblieben ist, der als langjähriger Stadtkämmerer vieles in ihr bewirkt hat und der heute noch mit seinem wachen Geist beeindruckt.
„Es ist kaum zu glauben, dass ich mit einem solch hohen Alter gesegnet bin“, stellt er fest und empfindet dafür vor allem Dankbarkeit. Dankbar ist er auch für seine Familie und „dass es ihm den Umständen entsprechend gut geht“. Denn das 100. Lebensjahr brachte für Ernst Gerhardt schmerzliche Veränderungen. Musste er doch Ende April dieses Jahres den plötzlichen Tod seiner Frau Anna, mit der er 77 Jahre verheiratet war, verkraften. Auch das Gehen fällt ihm nach einem Unfall schwer, so dass der stets so gesellige und bewegliche Gerhardt kaum noch aus dem Haus kommt. Nur den sonntäglichen Besuch des Gottesdienstes im Dom lässt sich der gläubige Katholik nicht nehmen. „Es ist einsamer geworden“ gibt er zu. Er ist aber froh, dass sich seine drei Kinder täglich um ihn kümmern und auch Freunde und politische Weggefährten immer noch anrufen oder den Weg in sein kleines Häuschen im Nordend finden.
Ernst Gerhardt: Neugierig auf die Welt
Zu reden gibt es genug. Ernst Gerhardt ist noch immer neugierig auf die Welt. Die Zeitung liest er jetzt, da er viel Zeit hat, aufmerksamer als früher. Und auch die Frankfurter Stadtpolitik verfolgt er nach wie vor. „Man kann sich über manches nur wundern. Ich interveniere nicht, aber der Verlauf interessiert mich doch sehr.“ Schließlich lagen die Entwicklungen lange Zeit auch in seiner Hand. 1953 trat er in die CDU ein, war von 1961 bis 1972 ihr Kreisvorsitzender. Jahrzehntelang gestaltete er direkt die Frankfurter Stadtpolitik mit, zunächst als Dezernent für Gewerbe und öffentliche Einrichtungen, dann im Sozial- und Gesundheitsressort, ab 1978 bis zu seinem Ausscheiden 1989 als Stadtkämmerer.
Insgesamt war er fast 30 Jahre lang als hauptamtlicher Stadtrat in Frankfurt tätig – bis heute ein Rekord. Und auch danach mischte er als Ehrenvorsitzender der CDU von seinem Büro an der Neuen Kräme aus in der Partei weiter mit, hat die eine oder andere politische Karriere gemacht, oder zumindest gefördert. Etwa die von Oberbürgermeisterin Petra Roth. Die Partei, das sei damals Ernst Gerhardt gewesen, erinnert sie sich an die Zeit, als sie 1972 in die CDU eingetreten war. Er habe sie mit der Leidenschaft, mit dem Fieber für die Lokalpolitik infiziert.
Mittlerweile hat Gerhardt losgelassen. „Ich will keine Entscheidungen mehr beeinflussen. Das ist heute eine andere Generation, die für ihre eigene Epoche agieren muss.“ Die Situation der CDU in Frankfurt sei schwierig, räumt er allerdings ein. „Aber die Akteure reagieren besonnen und bleiben ihrer Linie treu.“ Seiner Partei traut er auch bundesweit noch einiges zu und hält sie nach wie vor für die führende Kraft. Was die Bundestagswahl angeht, ist er daher optimistisch. „Es könnten zehn Prozent mehr sein, aber die CDU schafft es allemal, die Wahl zu gewinnen.“
„Man muss aufpassen, dass man dranbleibt. Die Stadt darf nicht die Bedeutung verlieren, die sie sich in der Spitze unter den deutschen Städten erobert hat.“ – Ernst Gerhardt
Das neue Regierungsbündnis in Frankfurt sieht er dagegen kritischer. Die neuen Koalitionspartner seien mehr dagegen als für die Dinge, findet er. Sie hätten aber ohnehin nicht so viel Spielraum. „Wer sich auskennt, der weiß, dass die Entscheidungen auf kommunaler Ebene oft keine politischen, sondern Sachentscheidungen sind.“ Und die Strukturen einer Kommune könne man ohnehin nicht von heute auf morgen verändern.
Ernst Gerhardt: Sympathische Schlitzohrigkeit
Gut drei Jahrzehnte ist es her, dass Ernst Gerhardt in den Ruhestand ging. Fragt man ihn, wie sich die Stadt in dieser Zeit entwickelt hat, sagt er selbstbewusst: „Alles was grundlegend war in meiner aktiven Zeit, ist nach und nach realisiert worden. Etwa das Ausweisen neuer Wohngebiete oder der Umgang mit Trägern im Sozial- und Gesundheitsbereich.“ Die Stadt habe sich positiv entwickelt, findet er, hat aber sogleich eine Mahnung an die jetzige Regierung parat: „Man muss aufpassen, dass man dranbleibt. Die Stadt darf nicht die Bedeutung verlieren, die sie sich in der Spitze unter den deutschen Städten erobert hat.“
„Ich denke, dass ich immer meine Pflicht getan habe. Wer handelt, der macht Fehler – mir fällt aber keiner ein.“ – Ernst Gerhardt
Für sein eigenes politisches Leben resümiert er kurz und bündig: „Ich hätte nichts anders gemacht.“ Immerhin kann er auf wichtige Projekte zurückschauen, die er während seiner Amtszeit als Kämmerer mit angestoßen hat. Etwa das Museumsufer mit insgesamt elf neuen Museen, die innerhalb von neun Jahren entstanden. Das Vorhaben war zwar inhaltlich die Idee seines SPD-Kollegen Hilmar Hoffmann, doch ohne seine Finanzierungszusagen und seine „sympathische Schlitzohrigkeit“ bei der Lösung unvorhergesehener Probleme, wie Hoffmann selbst es einmal bezeichnete, wäre es nicht zu verwirklichen gewesen. Auch der Wiederaufbau der Ostzeile auf dem Römerberg sowie der Alten Oper fielen in Gerhardts Zuständigkeit als Kämmerer. Als Präsident der „Freunde der Universität Tel Aviv in der Bundesrepublik Deutschland“ setzte er sich zudem stets für die Freundschaft und den Austausch zwischen Frankfurt und der israelischen Partnerstadt ein.
Dass er Ende der 1980er Jahre mit der versuchten Verlegung des Rotlichtmilieus aus dem Bahnhofsviertel ins Ostend zum Lieblingsfeindbild der Linken wurde und sogar vor Gericht landete, darüber lächelt Ernst Gerhardt heute und verweist auf sein hohes Alter: „das habe ich völlig vergessen“. Und dann kommt wieder so ein typischer von einem verschmitzten Lächeln begleiteter Gerhardt-Satz: „Ich denke, dass ich immer meine Pflicht getan habe. Wer handelt, der macht Fehler – mir fällt aber keiner ein.“
Ernst Gerhardt: Perfektes Aussehen
Wer auf fast 100 Jahre seines Lebens zurückblickt, kann viel erzählen. Bis heute erinnert sich Ernst Gerhardt an Details aus seiner Kindheit. Etwa an die Einweihung der Alten Brücke im August 1926. Sein Vater habe ihn damals auf den Schultern getragen, damit er die Feier am Main verfolgen konnte. Seine Eltern haben ihn geprägt. Als Sohn eines gelernten Schneiders und einer Schneiderin legt Gerhardt bis heute stets Wert auf ein perfektes Aussehen und verlässt das Haus nur im Anzug mit Weste und Hut.
Sein Vater bestärkte ihn auch darin, zu seinen Überzeugungen zu stehen, selbst in den schweren Zeiten des Nationalsozialismus. Als katholischer Pfadfinder weigerte sich Ernst Gerhardt damals, in die Hitlerjugend einzutreten. „Im Krieg und in der Zeit des Nationalsozialismus musste ich mich am meisten bewähren. Damals war es nicht leicht, Demokrat zu sein.“ Er nahm Nachteile in der Schule in Kauf und bekam seinen kaufmännischen Ausbildungsplatz beim Gerätehersteller Braun, wo er bis 1960 kaufmännischer Leiter des Kundendienstes war, nur durch großes Glück. Nach zahlreichen Ablehnungen bei anderen Firmen hatte man dort vergessen, nach seiner HJ-Mitgliedschaft zu fragen. Bei der Marine in Kiel sei er denunziert und nur aufgrund des Wohlwollens des Batterie-Chefs nicht bestraft worden, erinnert er sich und stellt im Rückblick fest: „Ich bin mit dem Verlauf meines Lebens zufrieden, weil ich mir und meinen Überzeugungen treu geblieben bin.“
Auch wenn Ernst Gerhardt anlässlich seines Geburtstages zwangsläufig gedanklich häufig in die Vergangenheit versetzt wird, ist er kein Nostalgiker, der glaubt, dass früher alles besser war. „Es ging uns noch nie so gut wie heute, weder wirtschaftlich noch politisch.“ Es sei doch mittlerweile unvorstellbar, dass es militärische Konflikte mit unseren Nachbarn geben könnte. „Es ist eine riesengroße Leistung von Adenauer und dem französischen Außenminister Robert Schumann, beziehungsweise Charles de Gaulle, gewesen, dass in Europa Frieden herrscht.“ Die Konstruktion der Europäischen Union sei wegweisend und friedenssichernd gewesen, stellt der überzeugte Europäer fest.
Noch ein bisschen leben
Sein Blick geht derzeit nicht nur zurück, sondern ebenso nach vorne. Auch mit dem Sterben beschäftigt sich Gerhardt, das für ihn zum Leben dazugehört. Seine Beerdigung hat er längst geplant. „Ich will erdbestattet sein, ich bin traditionsgebunden, und ich habe alles so geregelt, dass ich schon festgelegt habe, dass ein Trauergottesdienst im Dom stattfindet“, sagte er bereits vor mehr als zehn Jahren. Wer bei seiner Trauerfeier reden wird, ist ihm dagegen heute nicht mehr so wichtig. „Ich bekomme es ja nicht mehr mit. Das ist allerdings schade.“
Lobende Worte wird er garantiert einige an seinem 100. Geburtstag gehört haben, den die Stadt Frankfurt mit ihm an seinem Ehrentag bei einem Empfang in der Paulskirche begeht. Auch eine private Feier war vor Redaktionsschluss geplant. Er sei schon so oft offiziell gefeiert worden, überlegt er. Diesmal sei es aber doch etwas besonderes. „Ich hoffe nur, dass ich bei der Einladung niemand Wichtigen vergessen habe. Es ist schließlich die allerletzte Feier“, stellt er fest, auch wenn er sich zum Geburtstag nur eines wünscht: „Dass ich noch ein bisschen leben darf und gesund bleibe.“
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