Querdenker, Reichsbürger, QAnon-Anhänger – spätestens seit der Corona-Pandemie sind sie in aller Munde. Warum aber glauben die Menschen an Verschwörungsmythen, auch wenn sie völlig irrational sind? Der Neurowissenschaftler und Psychologe Prof. Philipp Sterzer hat eine Erklärung dafür und warnt davor, diese Menschen gleich für verrückt zu erklären.
Mit der Festnahme des Frankfurter Immobilienunternehmers Heinrich XIII. Prinz Reuß ist spätestens klar geworden, dass Reichsbürger-Fantasien mitten in der Gesellschaft angekommen sind. Bei einem öffentlichen Auftritt hatte dieser zuvor antisemitische Verschwörungsmythen geäußert, aber auch die Ansicht, der Erste Weltkrieg sei von ausländischen Freimaurern angezettelt worden und Deutschland seit dem 8. Mai 1945 kein souveräner Staat. Sogar seiner Familie gilt Prinz Reuß mittlerweile als „teilweise verwirrt“.
Sind aber alle Menschen, die an solche Verschwörungsmythen glauben, gleich verrückt? Philipp Sterzer kann das widerlegen. Der Professor für Psychiatrie und computationale Neurowissenschaften, der einst von 1998 bis 2004 an der Uniklinik Frankfurt seine ersten Gehversuche als Arzt und Wissenschaftler unternahm und nach langen Jahren an der Berliner Charité heute an der Universität Basel lehrt, beschäftigt sich seit seiner Zeit in Frankfurt mit dem Bewusstsein und der Frage, wie Überzeugungen entstehen. „Überzeugungen sind viel weniger rational, als wir bisher geglaubt haben“, lautet sein erstaunliches Ergebnis, über das er ein Buch mit dem Titel „Die Illusion der Vernunft“ geschrieben hat.
Überzeugungen müssen nicht wahr sein
Darin macht er deutlich, dass es vor allem daran liegt, wie wir die Außenwelt wahrnehmen. „Unsere Wahrnehmung ist kein passiver Vorgang, bei dem ein Bild der Außenwelt irgendwie in unser Gehirn hineinprojiziert wird“, erläutert der Wissenschaftler. Es sei also unser Gehirn selbst, das die Wahrnehmung konstruiert. Da es aber dabei in einer dunklen Knochenhöhle in unserem Kopf sitzt, muss es sich einen Reim auf die Signale machen, die es von den Sinnesorganen über die Außenwelt geliefert bekommt. Und das führt nicht immer zum gleichen Ergebnis, also zur vermeintlichen Wahrheit. Sterzer nennt als Beispiel die berühmte Zeichnung der Frau und der Schwiegermutter, die, je nachdem, auf welchen Ausschnitt man sich konzentriert, im gleichen Bild sichtbar werden. „Aus den identischen Daten konstruieren zwei Gehirne zum selben Zeitpunkt zwei unterschiedliche Wahrnehmungen.“
„Aus den identischen Daten konstruieren zwei Gehirne zum selben Zeitpunkt zwei unterschiedliche Wahrnehmungen.“ – Prof. Philipp Sterzer
Die Kriterien dafür, wie das Gehirn das Bild von der Außenwelt baut, richteten sich nicht nur danach, ob etwas wahr ist oder nicht. „Sie richten sich – und das ist ein Teil unserer evolutionären Entwicklung – eher danach, ob es unsere Überlebens- und Reproduktionswahrscheinlichkeit erhöht“, sagt Professor Sterzer. Auch dafür hat er ein Beispiel parat. „Wenn wir 1.000 Jahre zurückgehen und sie in einem Stamm leben, in dem ein bestimmter Götterkult vorherrscht und sie diesen infrage stellen, riskieren sie, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden.“ Die soziale Zugehörigkeit sei damit für das Überleben des Einzelnen wichtiger als die Frage, ob die Überzeugungen wahr sind oder nicht. „Das steckt bis heute in unseren Genen und ist ein Grund dafür, warum auch wir an unseren Überzeugungen festhalten, selbst wenn sie nicht der Wahrheit entsprechen.“
Einfache Antworten
Große übergeordnete Überzeugungen helfen dabei, uns einen Reim auf die Ereignisse in der Welt zu machen. Solche Überzeugungen „bilden Narrative, die für das Zusammenleben von Menschen sinnstiftend sind und damit für das Zusammengehörigkeitsgefühl von Gruppen“, sagt Sterzer und verweist damit noch einmal auf die wichtige soziale Funktion unserer Ansichten. „Wovon wir überzeugt sind, definiert, zu welcher Gruppe wir gehören und zu welcher nicht.“
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Und schon ist er in seinen Ausführungen bei den Querdenkern angekommen: „Verschwörungserzählungen sind eine gute Möglichkeit, sich von anderen abzuheben und sich einer exklusiven Gruppe anzuschließen, die vermeintlich über spezielles Wissen verfügt“, erläutert der Wissenschaftler, was an ihnen für das Gehirn reizvoll erscheint. Und erklärt weiter: Gerade in Krisen oder Situationen, die viel Verunsicherung mit sich bringen, hätten wir einen hohen Erklärungsbedarf, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Daher tendierten Menschen verstärkt dazu, dieser Verunsicherung mit vermeintlich einfachen Erklärungen zu begegnen. „Je größer die Erklärungsnot, desto bereitwilliger verlassen wir uns auf irgendwelche Erklärungen. Es ist viel einfacher zu sagen, dass alles von Bill Gates angezettelt worden ist, als die gesamte wissenschaftliche Literatur zu studieren.“
„Verschwörungserzählungen sind eine gute Möglichkeit, sich von anderen abzuheben und sich einer exklusiven Gruppe anzuschließen, die vermeintlich über spezielles Wissen verfügt.“ – Prof. Philipp Sterzer
Wie gut diese Erklärungen mit der Realität übereinstimmten, sei dann zweitrangig. „Hauptsache, sie sind einigermaßen plausibel, lösen Widersprüche auf und geben uns das Gefühl der Kontrolle zurück.“ Und weil diese irrationalen Überzeugungen in dieser Situation so gut täten, würden sie auch nur sehr ungern revidiert.
Sind Querdenker verrückt?
Was Philipp Sterzer beschreibt – ohne es in seinem Buch zu bewerten –, gilt aber eben nicht nur für Querdenker und Verschwörungsgläubige. Es ist ein Mechanismus, der bei uns allen vorkommt.„Grundsätzlich ist unsere Neigung zu irrationalen Überzeugungen kein Fehler im System, sondern die Folge der ganz „normalen“ Funktionsweise unseres Gehirns“, stellt er fest und warnt deshalb davor, Menschen wie Prinz Reuß mit ihren Reichsbürgerfantasien von vornherein als verrückt abzustempeln.
„Es gibt keinen kategorischen Unterschied bei der Entstehung von Wahn und „normalen“ Überzeugungen“, stellt der Wissenschaftler fest. Ob rational oder irrational, unsere Ansichten seien Hypothesen, die uns helfen, uns einen Reim auf die Ungereimtheiten in der Welt um uns herum zu machen. „Es gibt nichts, was wir mit absoluter Sicherheit wissen können. Die Möglichkeit des Irrtums ist bei jeder Überzeugung mit eingebaut. Daraus folgt in letzter Konsequenz, dass es so viele unterschiedliche innere Modelle der Welt wie Gehirne gibt.“ Eine Feststellung, die jeder im Hinterkopf haben sollte, wenn er mal wieder seine Ansichten mit dem Brustton der Überzeugung als einzige Wahrheit vertritt.
Im Dialog bleiben
Doch die gute Nachricht, die Sterzer in seinem Buch ebenfalls betont, lautet: Wir sind unseren Genen nicht sklavisch ausgeliefert. „Dass wir eine starke Neigung zur Irrationalität haben, heißt nicht, dass wir zur Rationalität nicht fähig sind. Wir haben die Fähigkeit, uns immer wieder zu hinterfragen und irrationale Tendenzen zu überwinden“, stellt er fest und schlägt daher vor, uns ein Beispiel an der Wissenschaft zu nehmen, die jede Hypothese immer wieder kritisch überprüft. Mehr noch, er gibt uns mit auf den Weg, verantwortungsvoll mit unserer Irrationalität umzugehen. „Die Evolution zwingt ja auch einen Mann nicht dazu, mit möglichst vielen Frauen zu schlafen. Ich kann mich als rationaler Mensch über diesen evolutionären Impuls hinwegsetzen und monogam leben.“
Je mehr Verständnis wir für unsere eigene Irrationalität entwickeln, desto mehr Toleranz gegenüber den irrationaler scheinenden Ansichten Andersdenkender können wir vielleicht entwickeln. In der Konsequenz könne uns das helfen, andere nicht sofort für verrückt zu erklären, sondern mit ihnen im Gespräch zu bleiben.
Sozialer Sprengstoff
Auch Philipp Sterzer hatte während seiner jahrelangen Arbeit an diesem Thema nicht damit gerechnet, seine Theorien einmal so verbreitet in der Praxis nachvollziehen zu können. „Die Corona-Pandemie hat mein Denken über das Thema noch mal verändert. Verschwörungserzählungen gab es bereits vorher. Aber dass sie so in den Vordergrund unseres Bewusstseins gerückt sind, hängt damit zusammen, dass sie ein Thema betrafen, das für uns alle von enormer Wichtigkeit ist.“
Die Pandemie habe sich zu einem Lehrstück darüber entpuppt, wie sich irrationale Überzeugungen in Zeiten der allgemeinen Verunsicherung verbreiten; wie unterschiedliche Auffassungen darüber, was wahr ist und was nicht, zum sozialen Sprengstoff werden und wie vorbestehende Risse in der Gesellschaft zu scheinbar unüberwindlichen Gräben werden können. Erstaunt habe ihn das nicht, sagt er. „Das ist an sich kein neues Phänomen, sondern eines, das man regelmäßig beobachten kann, wenn Erschütterungen stattfinden, wie etwa nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 oder dem Attentat auf Präsident Kennedy.“
Doch er sieht noch eine andere Entwicklung: „Ein positiver Effekt davon, dass die Verschwörungserzählungen so stark in unser Bewusstsein gelangt sind, ist möglicherweise ein Effekt der Abschreckung.“ Es gebe mittlerweile Untersuchungen aus der Schweiz, die darauf hindeuteten, dass weniger Menschen an Verschwörungserzählungen glauben als vor der Pandemie. „Während in der Schweiz 2018 bei einer Befragung noch 36 Prozent der Menschen angaben, daran zu glauben, waren es 2021 nur noch 28 Prozent, also schon ein deutlicher Rückgang.“
Auf Augenhöhe
Natürlich hat sich Sterzer auch Gedanken darum gemacht, wie man mit sogenannten Querdenkern umgehen kann und ob es sinnvoll ist, sich den meist fruchtlosen Diskussionen mit ihnen und anderen Verschwörungsgläubigen immer wieder zu stellen. „Es hängt davon ab, wie stark sich jemand in Verschwörungserzählungen verstrickt hat“, sagt der Wissenschaftler und plädiert dafür, den Dialog zu suchen, um die Gräben nicht noch größer werden zu lassen. Allerdings bringe es nichts, jemanden belehren zu wollen oder ihm Fakten an den Kopf zu werfen. „Wenn es einen Weg gibt, ist es der, immer im Gespräch zu bleiben und zu ergründen, warum mein Gegenüber Überzeugungen hat, die ich für völlig falsch halte.“ Es gebe außerdem psychologische Studien darüber, dass es durchaus eine Wirkung habe, immer wieder die gleichen Fakten zu präsentieren. „Man muss dranbleiben und man muss sich vor allem auf Augenhöhe begegnen. Wenn man eine Ebene findet und sich vielleicht nur darauf einigt, sich uneins zu sein, ist das immer noch besser, als den Kontakt völlig zu verlieren.“
Das gilt für ihn nicht nur im Privaten. Gerade die tiefen Gräben in Gesellschaften wie in den USA oder in Brasilien waren einer der Gründe, warum Sterzer seine Forschungen vorantrieb. Ein erster Schritt, sie zu überwinden sei es, die Mechanismen dahinter zu verstehen und zu begreifen, dass es nicht immer sinnvoll ist, auf unseren Ansichten zu bestehen. „Wir empfinden es als Zeichen der Schwäche, wenn wir unsere Überzeugungen ändern. Dabei ist es vielmehr eine Stärke, an unseren unerschütterlichen Überzeugungen zu rütteln und uns durch neue Evidenz immer wieder „erschüttern zu lassen.“
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