Individualität ist der Luxus unserer Zeit. Dass das traditionelle Handwerk des Maßschneiders wieder hoch im Kurs steht, wundert darum nicht. Denn nichts ist persönlicher als handgefertigte Unikate aus edlen Stoffen, die den Körper wie eine zweite Haut umschmeicheln. Wir haben uns auf Tuchfühlung begeben und herausgefunden, warum ein Maßanzug Leben verändern kann, welche Fasern zur Königsklasse zählen und warum Qualität Zeit braucht. Von Annika John
Schwere, nussbraune Holzdielen, große Fenster aus Rautenglas, ein opulenter Kronleuchter an der hohen Decke. Unter ihm schlanke Kleiderständer und Büsten, auf denen Kleider, Blazer, Blusen und Mäntel, aber auch Röcke und Brautkleider aus edlen Stoffen zur Schau gestellt werden. Wer das Atelier von Lili Maras in Sachsenhausen betritt, sucht das Exklusive, das Einzigartige. Seit elf Jahren kreiert die Couturière hier maßgefertigte, also individuell auf die Körpermaße ihrer Kundinnen abgestimmte Stücke, die allesamt in Handarbeit entstehen.
„Kleidung, die auf den Leib geschneidert ist, verändert die eigene Haltung, die Körpersprache und damit das ganze Lebensgefühl“, erklärt die Maßschneiderin, deren Handschrift vom Stil der Couture der 20er- bis 60er-Jahre geprägt ist. Ein Luxus, den sich immer mehr Menschen leisten. „Meine Kundinnen entscheiden sich damit nicht nur für mehr Passgenauigkeit und Qualität, sondern auch für ein Höchstmaß an Individualität. Und genau dieses Bedürfnis scheint in unserem digitalen Zeitalter, das auch von wachsender Unpersönlichkeit geprägt ist, zuzunehmen“, begründet Lili Maras die steigende Nachfrage.
Wir müssen reden
Ausschlaggebend für ein perfektes Ergebnis sei zunächst die Kommunikation. So dreht sich im Rahmen eines Erstgespräches alles darum, herauszufinden, welche Wünsche die Kundin hat, für welchen Anlass ein Kleidungsstück gefertigt wird und welche Materialien sie bevorzugt. Um der Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen, entwirft Lili Maras auch saisonal inspirierte Kollektionen, die sie in ihrem Atelier zum Anschauen und Anfassen präsentiert. „Wenn wir diese Punkte besprochen haben, wird Maß genommen. Anschließend stelle ich ein Nesselmodell, also einen dreidimensionalen Prototyp des künftigen Kleidungsstücks aus leichtem Baumwollstoff her, das zur vorläufigen Anprobe dient. So kann das Endergebnis besser veranschaulicht und Einzelheiten angepasst werden“, erklärt die gelernte Schnittdirektrice.
Meist könne das maßgeschneiderte Stück dann bereits nach ein bis zwei Anproben mit nach Hause genommen werden. Gerade weil das persönliche Gespräch für ihre Arbeit so wichtig ist, steht sie dem Trend, maßgeschneiderte Kleidung aus dem Internet oder per 3D-Scanner zu beziehen, skeptisch gegenüber. „Ich habe keine Angst vor Innovation“, stellt Lili Maras klar. „Aber bei der Maßschneiderei geht es um Augenmaß und die Umsetzung eines Handwerks. Ein Scanner ist nicht dazu in der Lage, Erfahrungswerte einzubringen. Und darum nehme ich diese Entwicklung auch nicht als Bedrohung wahr.“
Rohstoff-Performance
Aber nicht nur eine akribische Maßnahme und Feinheiten wie handgestochene Knopflöcher oder unsichtbare Nähte zählen. Auch müssen die Tuche, aus denen die Stücke gefertigt werden, hohen Ansprüchen gerecht werden. Ob Seide, Kaschmir, Vikunja- oder Escorialwolle, Ziegenvelour, Lammnappa oder Hirschleder – nur, wenn beste Rohstoffe verarbeitet werden, wird die textile Qualität der feinen Kunst des Handwerks gerecht. Aber wie lassen sich diese erkennen? „Guten Stoff erkennt man ganz einfach, indem man ihn anfasst“, erklärt Cem Mustafa Abaci. „Er muss beim Kneten zwischen den Fingern springen und darf beim Loslassen nicht knittern.“
Der Maßschneider, in Frankfurt einer der ersten Stunde, muss es wissen: Seit knapp 30 Jahren gehen edle Stoffe durch seine Hände, bevor daraus elegante, figurnah geschnittene und mitunter extravagant gemusterte Anzüge entstehen. Auch in seinem Atelier in der Neuen Mainzer Straße wird rein schneiderhandwerklich oder komplett handgenäht gearbeitet. Zur Wahl stehen nach Maß angepasste, italienisch gefertigte Anzüge, Sakkos, Hemden, Mäntel oder Strickwaren aus der hauseigenen Kollektion oder nach individuellem Wunsch gefertigte Stücke.
Die Sache mit dem Anzug
Doch das Handwerk sei keine DIN-Norm, betont Abaci. „Jeder Maßschneider hat eine andere Handschrift und entsprechend weichen auch die jeweiligen Fertigungen stark voneinander ab. Ich vergleiche das gerne mit Köchen, denen dieselben Zutaten gegeben werden, aber trotzdem ganz unterschiedliche Gerichte dabei herauskommen“, veranschaulicht der Designer, der von der GQ Style unter die 15 besten Maßschneider aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gewählt wurde. Die eigene Handschrift bezeichnet er als entspannt elegant, seine Anzüge geeignet für den Mann, der mit einer gelassenen Selbstverständlichkeit stilvoll aus der Reihe tanzen will.
Auch wenn die Einzelanfertigungen ihren Preis haben und die Wartezeiten schon einmal „vier bis sechs italienische Wochen“ betragen können, lohne sich die Investition, versichert Abaci. „Ein maßgefertigter Anzug wird das Leben seines Trägers verändern. Wenn er die individuelle Schönheit unterstreicht und die eigenen Proportionen ideal modelliert, wird der Mann anders auftreten und entsprechend von seinem Umfeld behandelt werden.“ Welche Materialien Abaci dabei verarbeitet – zumeist Wolle, aber auch Baumwolle, Kaschmir oder Leinen – hänge von den Vorlieben seiner Kunden und den klimatischen Bedingungen ab. „Stücke aus Baumwolle sind sportiver, während sich Wolle besonders für formellere Anlässe eignet. Wer einen leichten, weichen Griff bevorzugt, sollte sich für italienische Tuche entscheiden, während die Briten eher für strapazierfähige und dichter gewebte Tuche bekannt sind.“
Dress for Success
Kleider machen Leute. Diese Weisheit ist mittlerweile auch durch Studien wie die des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit belegt. Wer gepflegt und gut gekleidet auftritt, erhöhe seine Jobchancen um ganze 20 Prozent. Im Bewerbungsgespräch zähle lediglich zu sieben Prozent das Gesagte, zu 38 Prozent die Stimme und zu 55 Prozent die äußere Erscheinung, so die wissenschaftliche Erkenntnis. Gute Gründe also, sich gerade bei der Business-Garderobe um ein tadelloses Auftreten zu bemühen, oder? „Leider begreifen viele Männer den Anzug aber eher als Blaumann und entscheiden sich für unauffällige Modelle“, beobachtet Abaci. „Dabei kann er so hilfreich dabei sein, positive Charaktereigenschaften zu unterstützen und Kompetenz auch nach außen hin zu demonstrieren.“
Dass der perfekte Sitz dabei selbstverständlich sein sollte, ergänzt Charly Diehl, der seit 38 Jahren im Dienste des guten Stils steht und seine Kunden und Kundinnen im Bekleidungsgeschäft „Diehl & Diehl“ in der Hochstraße berät. „Besonders wichtig ist eine traditionelle Verarbeitung der Anzugjacke, denn gerade an der Schulterpartie und dem Halsausschnitt kann man erkennen, ob ein Anzug wirklich passt“, weiß der Modeexperte. Dazu zählt vor allem das sogenannte Pikieren – also das lockere Vernähen der meist aus Rosshaar bestehenden Einlage mit dem Oberstoff am Revers, ebenso wie von Hand eingenähte und angepasste Ärmel und handgestochene Knopflöcher.
Als Voraussetzung für geschmackvolles Auftreten gelte es aber zunächst, seinen eigenen Stil zu finden, statt sich an Trends zu orientieren. „Der modische Anspruch entscheidet nicht“, befindet Diehl. „Vielmehr geht es darum, Kleidung zu tragen, die zur individuellen Person passt.“ Der finanzielle Aspekt sei dabei eher zweitrangig. „Guter Geschmack hat nichts mit Geld zu tun. Wer Wert darauf legt, sich stilvoll anzuziehen, dem wird das auch mit einem kleineren Budget gelingen“, glaubt der Unternehmer, der in seinem Geschäft neben rahmengenähten Manufakturschuhen auch nach traditionellen Handwerkstechniken hergestellte Damen- und Herrengarderobe sowie exklusiv gefertigte Einzelstücke anbietet.
Qualität braucht Zeit
Ebenso wichtig: Die Wahl des richtigen Materials und so der Gewichtsklasse. Je nach Anlass, Bedarf und Jahreszeit gilt es, sich für eine bestimmte Stoffdichte zu entscheiden. Gemessen wird in der Einheit „Super“, die Auskunft über die Dicke der Fasern gibt. Vereinfacht ausgedrückt: „100s“ bedeutet, dass 100 Meter des verwendeten Garns ein Gramm wiegen. Je höher also die Zahl, desto dünner das Garn und entsprechend feiner, weicher und leichter das Kleidungsstück.
„Bei Textilien, die rund um das Jahr genutzt werden möchten, empfehlen wir Stoffe, die sich zwischen 250 und 270 Gramm pro Meter bewegen“, so Charly Diehl. Auch Zeit spiele bei guter Bekleidung eine wesentliche Rolle. „Hochwertige Naturfasern laufen bedeutend langsamer durch die Webmaschinen als Synthetikfasern – ebenso wie die Fertigung eines guten Anzugs eben länger dauert als die eines Stangenmodells“, erläutert er. „Qualität benötigt bestimmte zeitliche Produktionseinheiten, ganz gleich, ob wir von der Herstellung von Kleidung oder von Schuhen sprechen.“
Insbesondere beim Kauf von Kaschmir-Produkten rät der Experte zu Wachsamkeit. Gerade im Winter werden diese an jeder Ecke zu verlockenden Schnäppchenpreisen angepriesen. Doch nicht überall, wo die Edelwolle in reiner Form deklariert wird, ist sie auch tatsächlich drin. „Bemerkenswert ist, dass weltweit mehr Kaschmir verarbeitet wird, als die Welternte überhaupt hergibt“, weiß Diehl. Das liegt daran, dass häufig andere Wollsorten beigemischt werden und das Produkt, sofern es zumindest 85 Prozent der feinen Fasern enthält, dennoch als 100-prozentige Kaschmir-Fertigung ausgezeichnet werden darf.
Zudem werde bei den preisgünstigen Produkten häufig auf Kaschmir aus dem Reißwolf zurückgegriffen. Bei dieser Methode werden ausgesorgte Kleidungsstücke einfach zerrissen und zu neuen Fäden zusammengesponnen. Doch Weichmacher und gute Waschungen sorgen dafür, dass der Endkunde den Unterschied häufig nicht bemerkt. Darum empfiehlt sich eine Orientierung über den Preis. Ein Kilo Rohwolle kostet um die 200 Euro. Berücksichtigt man weitere Produktionskosten, so leuchtet ein, dass ein reiner Kaschmirschal keine 20 Euro kosten kann, sondern Preise ab 100 Euro vertrauenswürdig sind. Im Zweifel rät Diehl, sich besser für eine hochwertige Wolle als für einen minderwertigen Kaschmirstoff zu entscheiden.
„Unsere Wolle produzieren wir selbst. In Australien haben wir unsere eigene Farm mit tausenden Schafen.“
Aus Liebe zu sich selbst
„Eleganz ist zeitlos, sie stellt sich hinter die Mode und ist nicht greifbar. Sie besticht durch Vollkommenheit, ist leise und dennoch mutig. Sie ist ein Ausdruck von Qualität und Liebe zu sich selbst“, sagt Lili Maras. Eine Beschreibung, die auch auf die Maßschneiderei zutrifft. Ihre Macher laufen nicht dem Trend hinterher, sondern betrachten jeden einzelnen Kunden mit seinen Vorstellungen als das Maß der Dinge. Sie fertigen keine textilen Hüllen, sondern eine zweite Haut. Diese fällt auf, weil sie sich selbst zurücknimmt und die Persönlichkeit des Trägers unterstreicht. Wer Zeit und Geld investiert, um Kleidung nach Maß zu tragen, macht aus sich eine schönere Version seines Selbst. Und sich im Sinne der Selbstverwirklichung von der Masse abzuheben – das ist es, was Luxus in der heutigen Zeit wirklich definiert.
World´s Finest – Die edelsten aller Fasern
Alpaka
Die Wolle wird vom gleichnamigen Kamel gewonnen, das aus den südamerikanischen Anden stammt. Absolut kratzfrei ist nur mit dem Zusatz „Royal“ versehene Alpaka-Wolle, die einen Feinheitswert von etwa 19 Mikron aufweist. Je niedriger der Mikron-Wert, desto weicher und teurer ist der Faden. Ein menschliches Haar misst ca. 50 bis 60 Mikrometer.
Angora
Angorawolle wird aus den Haaren des Angora-Kaninchens gewonnen, die über hohle Fasern verfügen. Somit können sie Wärme speichern und gegen Kälte isolieren, weshalb sich die Wolle insbesondere für die Fertigung von Decken, Schals, Socken oder Bettwäsche eignet. Der Mikron-Wert liegt bei 8 bis 15. Escorial Weltweit existieren nur noch drei Escorial-Schafherden, deren Wolle mit 12 Mikron besonders exklusiv ist. Die Tiere stammen aus Nordafrika, wurden aber ab dem Jahr 1340 auf dem Gelände des königlichen Escorial-Palastes in Madrid gezüchtet. Später verschenkte der spanische König eine Herde nach Sachsen – weitere Schafe wurden nach Tasmanien und Neuseeland verschifft.
Guanako
Die Guanakos gehören zur Familie der Kamele und leben auf bis zu 5.000 Höhenmetern in den Hochebenen der Anden. Ihr feines, rotbraunes Unterhaar ist im luxuriösen Bekleidungssegment ein gefragter Rohstoff mit einem Feinheitsgrad zwischen 14 und 20 Mikron.
Kaschmir
Kaschmir wird aus dem Unterfell der im Himalaya beheimateten Kaschmirziege gewonnen. Zu beachten gilt: Ein Produkt muss aus mindestens 85 Prozent Kaschmirwolle bestehen, um als solcher deklariert werden zu dürfen. „Mit Kaschmiranteil“ bedeutet, dass es mindestens 14,5 Prozent beinhalten muss. Reiner Kaschmir (14 bis 19 Mikron) fühlt sich warm, weich und fest zugleich an und federt beim Zupfen sanft zurück.
Lotusseide
Lotusseide, die aus den hauchdünnen Fasern der indischen Lotosblume gewonnen wird, gilt als einer der teuersten Stoffe der Welt. Für nur einen Meter des zarten Gewebes werden über 10.000 Lotosstängel benötigt, die ausschließlich in Myanmar angebaut werden. Ihr Feinheitsgrad beträgt lediglich 5 Mikron.
Merino
Merino-Schafe produzieren eine stark gekräuselte Wolle, die aufgrund ihrer isolierenden und atmungsaktiven Eigenschaften besonders gerne für Outdoorbekleidung und Funktionsunterwäsche verwendet wird. Der Feinheitsgrad der Fasern bewegt sich zwischen 25 Mikron („strong“) und 17 Mikron („superfine“).
Mohair
Mohairwolle wird aus dem Haar der Angora-Ziegen gewonnen, die vorwiegend am „Kap der Guten Hoffnung“ leben. Es gibt drei Qualitätsstufen: 1. „Kid“ – die Wolle von Jungtieren mit einem Feinheitsgrad von 24 bis 29 Mikron; 2. „Young goat“ – die Wolle von heranwachsenden Ziegen mit einem Feinheitsgrad von 20 bis 33 Mikron und 3. „Adult“ – die Wolle ausgewachsener Tiere mit 34 bis 40 Mikron.
Qiviut
Die mittelbraune Wolle des Moschusochsen, der in den arktischen Tundren von Grönland bis Sibirien lebt, ist nicht nur um ein Vielfaches wärmer als Schafswolle, sondern sogar noch weicher als Kaschmir. Weil der Gewinnungsprozess sehr aufwändig und der Feinheitsgrad hoch (zwischen 11 und 18 Mikron) ist, kostet allein ein Kilo Rohwolle etwa 250 Euro.
Vikunja
Das in den Hochanden wildlebende Vikunja-Kamel ist zwar mit dem Alpaka und dem Guanako verwandt – die zimtfarbene Wolle aber übertrifft die seiner Artgenossen. Sie ist mit durchschnittlich 9 bis 15 Mikron flauschiger, wärmer und leichter als nahezu jede andere Wollart und ein Kilo wird zu einem Preis zwischen 8.000 und 10.000 Dollar gehandelt.
Yak
Die in Zentralasien verbreitete Rinderart produziert robuste, leichte und dennoch feine Wolle (16 bis 18 Mikron), die aus dem Unterhaar der Tiere gekämmt wird und bis zu 30 Prozent Flüssigkeit im Verhältnis zum eigenen Körpergewicht aufnehmen kann. Darum ist die Edelwolle insbesondere in der Bettwarenproduktion gefragt.
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