Alain Altinoglu ist international einer der gefragtesten Dirigenten, sowohl bei den großen Sinfonieorchestern als auch an den Opernhäusern. Seit einem Jahr ist er der Chef des hr-Sinfonieorchesters in Frankfurt und schwärmt von der Arbeit mit den Musikern, aber auch von der Stadt und der Eintracht.
Die Stimmung ist gelöst, auch noch am Ende der vierstündigen Probe. Alain Altinoglu sitzt am Dirigentenpult und scherzt mit dem jungen Wiener Geiger Emmanuel Tjeknavorian, der aktuell als „Artist in Residence“ beim hr-Sinfonieorchester ist. Die beiden kennen sich schon lange. Altinoglu war einst Assistent von Tjeknavorians Vater. Gerade proben sie für ein Sinfoniekonzert in der Alten Oper, das schon in zwei Tagen Premiere feiern soll. Dafür hat Altinoglu unter anderem Komponisten aus seiner Heimat Frankreich ausgewählt, Ernest Chausson, und ein eher unbekanntes Stück von Camille Saint-Saëns mit sehr schwierigen Violinen-Parts.
Auch für das Orchester ist das Stück neu. „José Luis, spiel an dieser Stelle lauter als die Flöten“, bittet Altinoglu den Musiker an der Oboe. Er kennt die Namen der Orchestermitglieder. Und sie verstehen offenbar das charmante Sprachgemisch des in Paris geborenen Dirigenten aus Deutsch, Französisch und Englisch bestens, wenn er etwa eine Passage „more dramatique“ haben möchte.
Ohnehin signalisiert Altinoglu mit seiner ausgeprägten Körpersprache, wie die Musik für ihn klingen soll. Wenn er zufrieden ist, seufzt er auch mal ergriffen. „Kommunikation ist das Wichtigste beim Dirigieren“, stellt er fest. „Ich kann mit meiner Hand noch so viel winken, wenn die Musiker vor mir nicht spielen wollen, passiert nichts. Ich muss ihnen vermitteln, wie wir die Musik zusammen erschaffen können. Die Psychologie spielt dabei eine große Rolle“, stellt er fest. Dafür nutzt der Dirigent seine Begabung für alle Sprachen – auch die der Noten und des Körpers. Eine lange Vorbereitung auf die Proben benötigte er dagegen bei diesem Konzert nicht. „Ich habe dieses Repertoire schon so oft dirigiert, das habe ich im Kopf. Es geht eher darum, sich auf das Orchester einzustellen und zu schauen, wo die Musiker stehen und wie ich mit ihnen das Ziel erreiche, zu dem ich gelangen möchte.“
„Kommunikation ist das Wichtigste beim Dirigieren. Ich kann mit meiner Hand noch so viel winken, wenn die Musiker vor mir nicht spielen wollen, passiert nichts.“ – Alain Altinoglu
Alain Altinoglu: Farbenfroher Stil
Mit den hr-Sinfonikern fällt ihm das offensichtlich leicht. Nach einem Jahr schwärmt er von der Zusammenarbeit mit ihnen, von ihrem hohen Niveau. Schon beim ersten Treffen habe die Chemie zwischen beiden sofort gestimmt. Er nennt das „Alchemie“. Und er spricht dabei wahrlich aus Erfahrung, hat er doch schon fast alle großen Orchester als Gast dirigiert, wie die Berliner und Wiener Philharmoniker, das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam, das London Symphony Orchestra, Orchester in Chicago, Cleveland, Boston und Philadelphia und natürlich alle großen Pariser Orchester.
Seit 2016 ist er zudem Musikdirektor des Opernhauses in Brüssel und dirigiert neben symphonischer Musik viele Opern. Er habe vor einiger Zeit aber den Wunsch verspürt, selbst ein Orchester zu führen, um seine musikalische Idee umzusetzen und mit den Musikern einen eigenen Klang zu entwickeln, erzählt er. Ein Dirigent sei nicht nur für Tempoveränderungen und Dynamik zuständig, also für das, was das Publikum auf Anhieb hört. „Es gibt so viele andere Aspekte, die er auf dem Podium verändert, allein schon durch seine Persönlichkeit.“ Es sind die Stimmungsfarben, auf die es ihm ankommt. Wenn er den Altinoglu-Stil beschreiben solle, dann sei dieser „farbenfroh“, sagt er, „nicht grau, das hoffe ich zumindest, aber das müssen andere entscheiden“.
Erst Noten, dann Buchstaben
Die Emotionalität, mit der Alain Altinoglu dirigiert, ist nur ein Aspekt seiner Arbeit. Die Musik begeistert ihn ebenso intellektuell. Diese Vielfalt an Anforderungen schätze er besonders. „Es ist nicht nur die Schlagtechnik am Pult, die man können muss, man muss auch wissen, wie Instrumente gespielt werden, die Biografien der Komponisten und die Geschichte der Musik kennen, dazu kommen soziologische Aspekte und vieles mehr.“ Und dann sind da noch die Partituren, die für die kommenden Konzerte in großen Stapeln in seinem Büro liegen. Er habe Noten noch vor den Buchstaben lesen können, erzählt er. Heute liest er die Partituren wie ein Buch. „Musik ist wie eine Sprache für mich.“ Das sagt er nicht aus dem Bauch heraus. Vor zwei Jahren habe man für eine französische TV-Dokumentation sein Gehirn untersucht und festgestellt, dass die Musik bei ihm eine Gehirnhälfte so stark beanspruche, dass die Sprachzentren nicht auf der linken, sondern auf beiden Gehirnhälften angesiedelt sind. „Das hatten sie zuvor noch nicht gesehen.“
Die frühe Beschäftigung mit Noten hat er seinem Großvater zu verdanken, der ihm als Junge schon alte Partituren von Beethoven schenkte. Noch früher schenkte ihm seine Mutter die Liebe zu den Tönen. „Sie war Klavierlehrerin. Ich habe also vermutlich schon im Mutterleib Musik gehört.“ Er folgte ihr nach und spielte Klavier, später dann auch Orgel. Seine Familie, die armenische Wurzeln hat, lebte in Paris beide Kulturen. „Meine Mutter spielte in der armenischen Kirche die Orgel. Sie starb, als ich 12 Jahre alt war. Später habe ich dann die Orgel dort einige Jahre gespielt.“ Und das war nicht irgendeine Orgel. In der Kirche Saint-Jean-Saint-François im Marais-Viertel hatte schon der Komponist César Franck gespielt. „Sein Name stand auf einer der Orgelpfeifen“, erinnert sich Altinoglu.
„Meine Mutter spielte in der armenischen Kirche die Orgel. Sie starb, als ich 12 Jahre alt war. Später habe ich dann die Orgel dort einige Jahre gespielt.“ – Alain Altinoglu
Von den Schlechten lernen
Er studierte schließlich Klavier am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse. Schon mit 16 Jahren begann Altinoglu als Korrepetitor an der Pariser Oper zu arbeiten und wurde schließlich Assistent. Die Chance, das erste Mal ein Orchester zu dirigieren, kam per Zufall, als er Mitte zwanzig war. Der Dirigent habe zu seiner Frau ins Krankenhaus gemusst, die gerade ein Kind bekam. Also fragte man ihn, ob er übernehmen könne. So stand Altinoglu 2001 zum ersten Mal vor den rund 100 Musikern des Pariser Opern-Orchesters und machte seine Sache offenbar gut. „Die Musiker sagten hinterher, ich sei begabt. Wenn sie gesagt hätten, es war eine Katastrophe, dann hätte ich sicher nie wieder dirigiert.“
So aber machte er weiter und sich nach und nach einen Namen. „Ich hatte nie im Leben Unterricht, ich habe mir alles selbst beigebracht“, erzählt er. Er habe viel gelernt von den besonderen Dirigenten, mit denen er als Korrepetitor gearbeitet hatte, wie etwa Pierre Boulez. „Aber auch viel von den schlechten, weil ich immer versucht habe, zu ergründen, warum sie so schlecht sind.“ Heute unterrichtet er selber angehende Dirigenten am Konservatorium. „Das war anfangs schwierig für mich, weil ich selber die Erfahrung nicht gemacht hatte, wie man lehrt.“ Doch er merkte schnell, dass es vor allem darum geht, auf die angehenden Dirigenten einzugehen, ob sie nun intellektuell begabt, dafür aber am Pult schüchtern sind, oder wie ein Löwe den Taktstock schwingen, dafür aber wenig theoretischen Hintergrund haben.
Den eigenen Taktstock behandelt er dagegen wenig zimperlich. Dass andere Dirigenten diese hüten wie einen Schatz oder abergläubisch immer mit demselben dirigieren, käme ihm nicht in den Sinn. Seine sind aus Carbonfaser, er hat gleich mehrere. Und das hat einen einfachen Grund: „Meinen ersten Taktstock, den ich mir gekauft habe, war aus Rosenholz und sehr teuer. Ich habe ihn schon in der ersten Probe zerbrochen. Diese zerbrechen nicht.“
Alain Altinoglu: Fan von PSG
Wenn Alain Altinoglu nicht gerade mit dem hr-Sinfonieorchester probt oder auftritt oder sich durch Notenstapel für die nächsten Konzerte arbeitet, dann nutzt er die wenige Zeit, um die Stadt kennenzulernen. Auch das sei ein Anreiz gewesen, hierherzukommen, sagt er. Etwa drei Monate des Jahres ist er insgesamt vor Ort und genießt es dann, im Grüneburgpark zu joggen, ins Städel zu gehen oder mit seiner Familie in den Taunus zu fahren. Die Begeisterung der Frankfurter für ihre Eintracht kann er ebenfalls gut nachfühlen. Altinoglu hat früher selbst Fußball gespielt und ist großer Fan von Paris Saint Germain. „Ich wohnte in Paris nur 200 Meter vom Stadion entfernt.“
Dass das Frankfurter Orchester beim Europe Open Air im vergangenen Sommer als Zugabe die Eintracht-Hymne spielte, war eine Idee seines Teams, von der er sofort begeistert war. „Es war so toll zu sehen, wie 20.000 Zuschauer mitgesungen haben. Das werde ich nie vergessen.“ Er hofft allerdings, dass jetzt nicht alle von ihm erwarten, das jedes Jahr zu tun. Abwechslung ist ihm auch an der Stelle wichtig. Eines macht ihm aber mehr Sorgen: Sollte die Eintracht in der Champions League weiterkommen, könnte sie auf PSG treffen. „Das wäre ein großes Problem für mich, weil ich auch Frankfurt sehr mag.“
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