In der kleinen, aber feinen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt-Oberrad gibt es nicht nur einen wunderschönen Park zu entdecken. Blick in eine Oase der Wissenschaft und der Spiritualität, nur zehn Minuten vom Zentrum entfernt.
Wer die Offenbacher Landstraße, im Rücken den Bau der EZB, in Richtung Offenbach entlangfährt, sieht auf der linken Seite die Felder der Oberräder Gärtner, die hier jene sieben Kräuter züchten, aus denen die grüne Soße komponiert wird. Rechts tritt zunächst eine lange graue Mauer in den Blick. Darüber wehen ein paar Fahnen mit dem Bild des Heiligen Georgs, jenes Drachentöters, der als Schirmherr über das Bistum Limburg wacht. Der Name „Sankt Georgen“ aber leitet sich nicht von dem Heiligen und Märtyrer ab, sondern von dem Bankier Georg von Saint-George, der das Areal 180 erworben hatte. Dessen Tochter Catharina Elisabeth hatte den Bankier Peter Carl von Grunelius geheiratet.
Über das hintere Tor des Grundstücks im Südosten Frankfurts hob zu Beginn der zwanziger Jahre ein stämmiger Jesuit seinen Ordensoberen, den würdigen Pater Provinzial, damit er einen Blick werfen konnte auf die Villa Grunelius und den sie umgebenden Park. Die Jesuiten wollten das Anwesen samt Bäumen und Büschen von dessen greisem Besitzer kaufen, dem Bankier Moritz Eduard von Grunelius. Der lehnte es ab, das Erbe seiner Mutter zu veräußern. Doch seine Erben, 1925 von der Geldentwertung materiell geschwächt, willigten ein: Im Dezember 1925 wechselte das Areal den Besitzer. Mit Beginn des Wintersemesters 1926 nahm jene kleine Philosophisch-Theologische Hochschule ihren Betrieb auf, die sich bald in der akademischen Welt einen großen Namen machte.
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- Friedrich, Markus (Author)
Wie schon bei der Gründung vor fast hundert Jahren beherbergt der Gebäudekomplex in der Offenbacher Landstraße 224 heute drei Einrichtungen unter einem Dach: Hochschule, Priesterseminar und Jesuitengemeinschaft. Die Kommunität des Jesuitenordens ist angesichts des Priestermangels heute stark geschrumpft. Nur noch 25 Mitglieder des Jesuitenordens leben in Sankt Georgen. Auch das Priesterseminar leidet nicht an Überfüllung. Gerade noch gut zwanzig junge (und inzwischen auch etwas ältere) Männer bereiten sich hier auf den Beruf des katholischen Geistlichen vor. Dabei kommen sie derzeit aus den acht Bistümern Aachen, Görlitz, Limburg, Trier, Dresden-Meißen, Osnabrück, Berlin und Hildesheim.
Wer Sankt Georgen etwas näher kennenlernen will, hat vier Möglichkeiten, auch wenn er oder sie sonst nicht viel mit der katholischen Kirche am Hut hat. Der einfachste Weg ist ein Gang durch den schönen Park. Denn das große schmiedeeiserne Tor in der Offenbacher Landstraße 224 steht jedem offen, täglich zwischen 8 und 20 Uhr. Dem Spaziergänger öffnet sich eine Grünfläche von fast acht Hektar Größe mit mehr als tausend unterschiedlichen Gehölzen, ein veritabler botanischer Garten, der durch Beschriftungen und kleine Hinweistafeln seine Besucher klüger macht.
Wer mag, kann seine Bekanntschaft mit der Jesuitengemeinschaft auch im Gottesdienst beginnen. Zu einer selbst für Langschläfer geeigneten Uhrzeit um 11.15 Uhr beginnt die sonntägliche Messe, meist begleitet von Kirchenmusik in hoher Qualität. In Pandemiezeiten ist die Teilnahme auf 25 Personen beschränkt, eine Anmeldung ist unter 069/061-0 erforderlich. Entfallen die Vorschriften, ist wieder jede(r) willkommen.
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Die vergnüglichste Weise, einen ersten Blick auf das Leben einer philosophisch-theologischen Hochschule zu werfen, bietet freilich das traditionelle Sommerfest in Park und Hochschule, mit einem großen Angebot an Speisen und Getränken, mit Kinderbelustigung im Freien, klugen Kurzvorträgen im Hochschulgebäude und einem stets üppig bestückten Bücherflohmarkt. Alle machen mit. Der Dogmatikprofessor spielt in der hauseigenen Band auf der Rhythmusgitarre, dem Hochschulrektor kann man bei der Kuchenausgabe begegnen und dem Professor für Fundamentaltheologie vielleicht am Rost für die Bratwürste.
Die vierte, aber auch intensivste Möglichkeit einer Annäherung besteht in der Möglichkeit einer Gasthörerschaft. Wer sein Wissen über theologische und philosophische Fragen vertiefen will, muss beim Rektor einen Antrag stellen, was gern online geschehen kann. Über die Modalitäten informiert die gut gemachte Homepage sankt-georgen.de. Besonders beliebt bei den Gästen sind die Studienprogramme „Islam und christlich-muslimische Begegnungen“ und „Medien und öffentliche Kommunikation“. Den Gasthörern wie den regulären Studierenden steht die bestens sortierte Bibliothek mit 80.000 Bänden und hundert Arbeitsplätzen zur Verfügung.
Von dem geballten theologisch-philosophischen Wissen Sankt Georgens wollte Mitte der achtziger Jahre auch ein gewisser Jorge Mario Bergoglio profitieren, Angehöriger des Jesuitenordens und heute besser bekannt als Papst Franziskus. 1986 war er für einige Wochen nach Sankt Georgen gekommen, um hier Material für eine – unvollendete – Doktorarbeit über den deutsch-italienischen Religionsphilosophen Romano Guardini zu sammeln. Gesprächspartner für den Deutsch sprechenden Bergoglio damals war der Sankt Georgener Pastoraltheologe Prof. Michael Sievernich, der sich aber mit dem Argentinier auf Spanisch unterhielt.
An interessanten Zeitgenossen herrscht unter den Lehrenden in Sankt Georgen sowieso kein Mangel. Ansgar Wucherpfennig zum Beispiel ist Neutestamentler, beherrscht neben Latein, Altgriechisch, Englisch, Italienisch und Hebräisch auch Syrisch und Aramäisch. Der umgängliche Mann, der Saxophon spielt und einen großen Bekanntenkreis pflegt, war vor einiger Zeit mit Rom in Konflikt geraten. Die Bildungskongregation verweigerte ihm das „Nihil Obstat“, also die Zustimmung zur Ausübung eines Lehramts. Stein des Anstoßes war ein Interview, in dem der Jesuit (zu) liberale Positionen in Fragen der Homosexualität vertreten hatte. Die Sache ging glimpflich aus – auch weil sich so viele für den „untadeligen Priester“ (Stadtdekan zu Eltz) einsetzten.
Wucherpfennigs Nachfolger als Rektor der Hochschule ist mit dem Kirchenrechtler Prof. Thomas Meckel zum ersten Mal seit fast hundert Jahren ein Nicht-Jesuit. Der Jurist, der wie alle katholischen Kirchenrechtler zunächst von der Theologie herkommt, ist froh, dass die Zahl der Studierenden mit rund dreihundert Männern und Frauen stabil ist. Der Teil derer, die sich postgraduiert weiter qualifizieren, ist groß – allein 74 von 300 Studierenden arbeiten derzeit an ihrer Doktorarbeit. Wenn Kirchenjurist Meckel Vorträge hält, sind die Themen etwas für Feinschmecker, etwa „Die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils und ihre kirchenrechtliche Umsetzung“.
Beim Thema „Konzil“ kommt man auch an Pater Klaus Schatz nicht vorbei. Der längst emeritierte, hochangesehene Gelehrte bringt es auf zahlreiche Bücher. Drei Bände widmen sich allein dem 1. Vatikanum von 1867 bis 1870, und seine „Geschichte des päpstlichen Primats“ wurde in sieben Sprachen übersetzt. Als er die „Geschichte der deutschen Jesuiten“ erforschte, kostete ihn das rund 15.000 Arbeitsstunden. Ergebnis: fünf Bände mit 2.100 Seiten. Schatz, der stupendes Wissen mit sympathischer Weltfremdheit verbindet, ist seinen Ordensoberen dankbar, dass sie ihn nie mit Leitungsfunktionen überforderten.
Auch Dieter Böhler, Professor für die Exegese des Alten Testaments, drängt es nicht nach Ämtern. Sie würden auch nicht recht in seinen Tagesrhythmus passen, schon gar nicht bei abendlichen Sitzungen oder Empfängen. Denn der gebürtige Schwarzwälder steht täglich gegen 4 Uhr auf und ist folgerichtig gegen 20 Uhr müde. Was ihn aber nicht davon abhält, in seiner Studierstube im dritten Stock der Hochschule täglich an seinem wissenschaftlichen Kommentar zu den ersten fünfzig Psalmen zu arbeiten.
Mit aktuelleren Fragen beschäftigt sich Pater Tobias Specker. Er ist Spezialist für die zweitgrößte Religion der Welt und lehrt in Sankt Georgen „Katholische Theologie im Angesicht des Islam“. Diese Stiftungsprofessur, unter anderen gefördert von Mainova und Frankfurter Volksbank, zielt auch darauf ab, die angehenden Priester und Pastoralreferenten auf eine Arbeitswirklichkeit vorzubereiten, die nicht mehr allein durch die christliche Religion geprägt ist.
Specker wird bald Nachfolger von Pater Heinrich Watzka als „Oberer“ der Sankt Georgener Jesuitengemeinschaft. Er leitet dann eine doch stark geschrumpfte Kommunität – zu Beginn der siebziger Jahre waren es statt 25 noch 5 Mal so viele. Auch wenn der Titel „Oberer“ nach strenger Hierarchie klingt, ist Speckers neue Aufgabe vor allem auf die solidarische Erprobung neuer Formen des Zusammenlebens angelegt.
Die Gemeinschaft, die in Sankt Georgen zusammenlebt, darf man sich nicht wie in einem Kloster vorstellen. Zum einen sind die Jesuiten – anders als etwa die Benediktiner – nicht lebenslang an einen Ort gebunden. Zum anderen ist Sankt Georgen zwar Lebensmittelpunkt, aber jeder darf jederzeit das Haus verlassen, die Tagesgestaltung bleibt Sache der freien Wahl. Auch folgt man in Oberrad nicht der Maxime, jeder müsse mit jedem Ordensbruder in gleicher Intensität befreundet sein.
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Gleichwohl wird das Leben ausnahmslos für alle Jesuiten von drei Gelübden bestimmt. Während die Weltpriester „nur“ Keuschheit und den Gehorsam gegenüber ihrem Bischof versprechen müssen, kommt bei den Jesuiten noch das Gelübde der Armut hinzu. „Armut“ bedeutet nicht, dass die Ordensmänner in Sack und Sandalen gehen müssen, aber doch den völligen Verzicht auf eigenen Besitz: Das Mobiltelefon und der Computer gehören dem Orden, Honorare aus Buchveröffentlichungen ebenso, auch Erbschaften fließen an den Orden. Wer eine größere Anschaffung oder einen etwas aufwendigeren Urlaub plant, muss das zuvor mit dem „Minister“ besprechen, der für alle praktischen Fragen zuständig ist.
Natürlich fällt je nach Temperament und Neigung die Bereitschaft, sich an die drei Gelübde zu halten, unterschiedlich aus. Ansgar Wucherpfennig beispielsweise gibt unumwunden zu, der Gehorsam sei für ihn wohl die größte Herausforderung. Heinrich Watzka dagegen, dessen Vater Koch und Gastwirt war, liebt gutes Essen und hat mit seinen Oberen manche Auseinandersetzung geführt, wenn es um hohe Restaurantrechnungen ging.
Da der Jesuitenorden weltumspannend aufgestellt ist, zeigt Sankt Georgen immer auch ein internationales Profil. Akademische Gäste aus aller Welt sind hier willkommen, umgekehrt gehen Sankt Georgener in die Welt. Philosophieprofessor Watzka zum Beispiel unterrichtet seit diesem Sommer die Studenten an der Jesuiten-Universität in Simbabwe. Und der 36 Jahre alte indische Pater Rayan Lobo fungiert derzeit als Stellvertreter des Leiters („Regens“) des Sankt Georgener Priesterseminars. Er hält es für seine Hauptaufgabe, die Priesteranwärter wie ein Mitbruder zu begleiten. Der Jesuit aus Mangalore ist beeindruckt von der Ernsthaftigkeit, mit der die wenigen deutschen Seminaristen sich auf ihre Aufgabe vorbereiten.
Man sieht schon aus der Erwähnung interessanter Menschen, wie viele Talente mit den unterschiedlichsten Interessen in Sankt Georgen versammelt sind. Der im 20. Jahrhundert wohl Bedeutendste war Prof. Oswald von Nell-Breuning, der große alte Mann der katholischen Soziallehre. Aufgrund seiner religiösen Überzeugungen setzte er sich für die Mitbestimmung ein, für die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmer, für die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital und prägte eingängige Sätze wie: „Absolutes Nutzungsrecht habe ich nur auf meine Zahnbürste.“ Nell-Breuning starb im Alter von 101 Jahren, hochangesehen bei Gewerkschaftern, Unternehmern und Politikern, eine moralische Instanz, Ehrenbürger der Stadt Frankfurt, wo er – in Sankt Georgen – von 1926 bis zu seinem Tod 1991 gelebt hatte.
Obwohl die Hochschule bis heute ein Ort der geistigen Höhenflüge ist, herrscht hier kein Klima intellektueller Kälte. Wer einmal an den Feiern der Eröffnung oder des Abschlusses eines Semesters teilnehmen konnte, wird erleben, welch persönliches Verhältnis hier zwischen Lehrenden und Lernenden den Ton angibt. Und als im Lokalteil einer Frankfurter Zeitung auf der Hochschulseite eine Studentin gefragt wurde: „Was wollten Sie Ihrem Rektor schon immer mal sagen?“, gab sie eine nette Antwort: „In Sankt Georgen sind die Wege sehr kurz: Wenn ich ihm etwas sagen will, bespreche ich das mit ihm bei einem Kaffee oder während eines Spaziergangs.“
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