Das Rheingau Musik Festival kennt er, so lange er denken kann. Seit einem Jahr ist Marsilius Graf von Ingelheim, Stiefsohn des Gründers Michael Herrmann, nun Mitgeschäftsführer des größten privatwirtschaftlich finanzierten Musikfestivals Europas. Doch in diesem Jahr ist auch für ihn alles anders. Von Sabine Börchers und Michael Hohmann (Fotos)
Als Vierjähriger erlebte Marsilius Graf von Ingelheim zum ersten Mal ein Konzert des Rheingau Musik Festivals. Als 14-Jähriger arbeitete er als Parkplatzwächter für das Unternehmen, seitdem war er jedes Jahr dabei. Heute ist er 34 und der neue Geschäftsführer eines der größten Musikfestivals Europas. Die rund 150 Konzerte jedes Jahr waren eine Konstante in seinem Leben – bis zur Corona-Krise.
Ausgerechnet im zweiten Jahr seiner Amtszeit verbringt der Geschäftsführer wochenlang seine Arbeitstage in seinem Büro in einem ehemaligen Weingut in Oestrich-Winkel damit, den Menschen zu erklären, warum die Konzerte nicht stattfinden, er musste die 20 Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken und immer wieder darum kämpfen, das Unternehmen zu retten.
„Wir hätten 130.000 Gäste gehabt, für die Kultur ist das eine Katastrophe“
Alle Veranstaltungen dieses Jahres wurden abgesagt, insgesamt 137 Konzerte an so schönen Orten wie dem Kloster Eberbach, dem Schloss Johannisberg, Weingütern oder dem Kurhaus Wiesbaden. Stars wie Daniel Barenboim, Anne-Sophie Mutter, Jonas Kaufmann, Till Brönner und Ute Lemper bleiben zuhause, die übrigen rund 2.700 Künstler ebenfalls.
„Wir hätten 130.000 Gäste gehabt, für die Kultur ist das eine Katastrophe“, stellt Marsilius Graf von Ingelheim fest. Er selber hatte sich besonders auf die stets sehr persönlich gestalteten Auftritte von Lisa Batiashvili gefreut, „die beste Geigerin, die wir zur Zeit haben“, schwärmt er, der selbst Saxophon spielt. Die Georgierin wäre als „Artist in Residence“ gleich viermal beim Festival zu erleben gewesen. Drei Jahre lang hatten die Planungen für die diesjährigen Veranstaltungen gedauert, Programme waren gedruckt, die Werbung geschaltet, Karten verkauft – alles vergeblich.
Ohne Umschweife lenkt der Betriebswirtschaftler, der in Frankfurt und London studiert hat, den Blick auf den finanziellen Schaden. Ein Loch von zwei Millionen Euro sei in der Bilanz von 2020 entstanden. Etwa 500.000 Euro habe das Unternehmen aus dem Kulturrettungsfonds des Landes Hessen bekommen. Es bleibt ein Fehlbetrag von eineinhalb Millionen Euro.
Die GmbH plane jede Saison finanziell auf den Punkt, erläutert er weiter. Die Einnahmen kommen vor allem von Sponsoren und aus den Eintrittsgeldern. Die staatliche Förderung mache nur einen kleinen Teil aus. Ein Überschuss wird nicht langfristig zurückgelegt. „Wir reinvestieren immer in den Betrieb, um hochkarätiger zu werden.“ Um so wichtiger sei es nun, zu verhindern, „dass wir substanzielle Kredite aufnehmen müssen, die die Saison 2021 belasten.“ Konzerte wie das der Berliner Philharmoniker im Kurhaus Wiesbaden vor 1.300 Zuschauern, in das zum Beispiel ein Teil solcher Überschüsse fließen muss, um es zu ermöglichen, könnten sie sich sonst nicht mehr leisten.
Große Solidarität
Dann drohe, was die Qualität der Veranstaltungen angeht, eine Abwärtsspirale, fürchtet Marsilius Graf von Ingelheim und hoffte im Mai auf die vielen treuen Kunden und Fans des Festivals, die die bereits verkauften Tickets zurückschickten, versehen mit persönlichen Wünschen und Aufmunterungssätzen. Einige von ihnen verzichteten auf die Erstattung des Ticketpreises, andere zumindest auf einen Teil oder sie akzeptierten einen Gutschein.
Die Welle der Solidarität sei groß gewesen, stellte auch der Intendant Michael Herrmann fest. Er saß mit einem Teil der Familie im Ticketbüro, umgeben von gut gefüllten gelben Postkisten, um die Rückgabe abzuwickeln. Immer wieder lasen sie sich dort die berührendsten Passagen aus den Briefen gegenseitig vor und nahmen sich vor, alle Anschreiben persönlich zu beantworten, auch wenn das sechs bis acht Wochen dauern würde.
Marsilius Graf von Ingelheim fasste die Hilfsbereitschaft der Kulturliebhaber in Zahlen: Unter den Mitgliedern des Fördervereins, dessen Vorsitz der Unternehmer und Festival-Mitbegründer Claus Wisser innehat, würden mehr als 60 Prozent auf die Erstattung ihrer Tickets verzichten, unter den Endkunden etwa 30, schätzte er zu der Zeit und zeigte sich dankbar: „Das sind schon tolle Reaktionen.“
Familiengeschichten
So ganz mussten die Fans des Rheingau Musik Festivals in diesem Sommer nicht auf ihre Konzerte verzichten. „Wir wollten, dass Musik erklingt, wenn nicht mit Publikum, dann online“, sagt der Geschäftsführer. Die Konzeption des Ersatzprogramms lag ebenfalls in seinen Händen. Seit Marsilius Graf von Ingelheim in die Geschäftsführung eintrat, ist das Festival noch stärker zum Familienunternehmen geworden.
Er versucht, seinen Stiefvater zu entlasten und das Unternehmen gleichzeitig auf die Zukunft vorzubereiten, indem er etwa die Online-Präsenz ausbaut und mit dem Streaming von Konzerten neue Zielgruppen anvisiert. „Ich mische mich aber in alles ein und schaue, wo ich Wert stiften kann.“
„Ich mische mich in alles ein und schaue, wo ich Wert stiften kann.“- Marsilius Graf von Ingelheim
So entstand auch die Idee, mit dem Format „Fahrende Musiker“ die imaginäre Grenze des Rheins zu überschreiten, die in diesem Jahr allerdings ebenfalls der Corona-Pandemie zum Opfer fiel. Im vergangenen Jahr gab es zum ersten Mal Konzerte in rheinhessischen Weingütern, etwa im gegenüberliegenden Ingelheim – und das, obwohl der dortige Bürgermeister, als die Anfrage des Grafen von Ingelheim kam, zunächst an einen Scherz dachte.
Doch dieser bringt für seine Aufgabe im Rheingau nicht nur Erfahrungen als Finanzanalyst bei Procter & Gamble und aus dem Projektmanagement der Telekom mit, sondern auch eine lange Familiengeschichte. Er stammt aus dem rheinischen Uradel, sein Stammbaum reicht bis ins Jahr 1192 zurück: „Meine Familie kommt ursprünglich aus Ingelheim, einer meiner Vorfahren war Verwalter am Hof von Kaiser Karl dem Großen. Die Burgruine, in der meine Verwandten bestattet sind, gibt es dort noch“, erzählt er.
Als Napoleon den Landstrich besetzte, hätten sich die Grafen aber lieber in den Rheingau zurückgezogen. Seitdem leben die von Ingelheims auf dieser Rheinseite. Seit dem 17. Jahrhundert führt die Familie sogar den stattlichen Titel der Grafen von Ingelheim genannt Echter von und zu Mespelbrunn. Weil die männliche Linie des berühmten Julius Echter von Mespelbrunn, Fürstbischof von Würzburg und Gründer der dortigen Universität, damals fast erloschen wäre, arrangierten die Familien die Heirat mit einer Erbtochter des Stammes und führten beide Wappen zusammen. Das malerische Wasserschloss Mespelbrunn, in den 1950er- Jahren Drehort des Lilo-Pulver-Spielfilms „Das Wirtshaus im Spessart“, ist noch heute im Besitz seiner Großtante.
An der Uni von Prinz William
Anders als sein Name erwarten lassen könnte, tritt Marsilius Graf von Ingelheim allerdings sehr bescheiden auf. Es gebe einfach Familien, die hätten das Glück, dass ihre Geschichte aufgeschrieben wurde, andere nicht, sagt er. „Man kann stolz sein auf seine Tradition und Herkunft, aber man darf sich nichts darauf einbilden.“ Ob ihm der Name beruflich nutze, das habe er sich auch schon gefragt. „Es kann schon sein, dass es das Jungsein ein wenig kaschiert, weil so ein schwerer Name darüberfällt. Aus irgendeinem Grund haben manche Menschen Ehrfurcht davor.“
„Man kann stolz sein auf seine Tradition und Herkunft, aber man darf sich nichts darauf einbilden.“ – Marsilius Graf von Ingelheim
Dabei kann der Graf durchaus mit seiner Ausbildung glänzen. Sein Masterstudium im Fach Finance absolvierte er an der University of St. Andrews, der ältesten Universität Schottlands. Auch der englische Thronfolger Prinz William und Herzogin Kate hatten kurz vorher dort studiert.
Doch das war nicht der Grund dafür, dass Marsilius Graf von Ingelheim für ein Jahr dorthin wechselte. „Ich wollte immer schon eine solche traditionelle britische Universität erleben.“ Zudem liege die kleine Uni sehr schön an der Steilküste der Nordsee, verlange deutlich geringere Studiengebühren als andere und verfüge über acht Golfplätze, die auch ihn zu diesem Spiel animierten.
Nach seinem sich anschließenden Ausflug zu Procter & Gamble in Schwalbach und der Telekom in Bonn zog es ihn dann aber zurück in die Heimat des Rheingau. „Langfristig wollte ich in ein mittelständisches Unternehmen, in dem ich jedes Rädchen selbst beeinflussen kann.“ Die Idee, die Konzertgesellschaft einmal von Michael Herrmann zu übernehmen, ist ihm natürlich auch gekommen. „Ich möchte aber, dass wir sie gemeinsam möglichst lange weiterführen.“ Persönlichkeiten wie sein Stiefvater und Claus Wisser seien schließlich identitätsstiftend für das Festival. Der Vater von zwei kleinen Kindern will seine Wurzeln im Rheingau nun gerne dazu in die Waagschale werfen.
„Wir hoffen aber, dass das Festival 2021 stattfinden kann, und sei es mit Hygiene- und Abstandsregeln.“
Derzeit ist Marsilius Graf von Ingelheim damit beschäftigt, das Festival 2021 mit vorzubereiten.„Die Planungen müssen in diesem Spätsommer abgeschlossen sein, länger können wir nicht warten.“ Wie die Corona-Pandemie sich im kommenden Jahr auf solche Veranstaltungen auswirken wird, kann bis dahin noch niemand voraussagen. „Wir hoffen aber, dass das Festival 2021 stattfinden kann, und sei es mit Hygiene- und Abstandsregeln. Die können wir einhalten.“
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